Ob Übereinstimmungen einer Prüfungsarbeit mit dem amtlichem Lösungsmuster zu Lasten des Prüflings die Vermutung einer Täuschungshandlung rechtfertigen (Beweis des ersten Anscheins)1, kann nur durch einen umfassenden und einzelfallbezogenen Vergleich festgestellt werden, der den Inhalt der konkret erbrachten Prüfungsleistung sowie Art, Umfang und Detaillierungsgrad des Lösungsmusters berücksichtigt.
Als Rechtsgrundlage für den Ausschluss der Klägerin von der weiteren Teilnahme an der Abiturprüfung kommt in Baden-Württemberg nur § 28 Abs. 3 NGVO2 in Betracht. Danach wird der Schüler bei Vorliegen einer Täuschungshandlung von der weiteren Teilnahme an der Prüfung ausgeschlossen; dies gilt als Nichtzuerkennung der allgemeinen Hochschulreife (§ 28 Abs. 3 Satz 1 NGVO). In leichten Fällen kann stattdessen die Prüfungsleistung mit der Note „ungenügend“ (0 Punkte) bewertet werden. Die Entscheidung trifft bei der schriftlichen Prüfung der Schulleiter (§ § 21 Abs. 3 Satz 1, 28 Abs. 3 Sätze 2 u. 3 NGVO). Eine Täuschungshandlung begeht, wer es unternimmt, das Prüfungsergebnis durch Täuschung oder Benutzung nicht zugelassener Hilfsmittel zu beeinflussen oder nicht zugelassene Hilfsmittel nach Bekanntgabe der Prüfungsaufgaben mitführt oder Beihilfe zu einer Täuschung oder einem Täuschungsversuch leistet (§ 28 Abs. 1 NGVO).
Täuschung im Sinne des Prüfungsrechts und auch dieser Vorschrift ist die Vorspiegelung einer eigenständigen und regulär erbrachten Prüfungsleistung, um bei dem Prüfer über die ihr zugrunde liegenden Kenntnisse und Fähigkeiten einen Irrtum zu erregen. Die Sanktionen bei Täuschungen knüpfen an die Tatsache an, dass zu einer ordnungsgemäßen Prüfungsleistung die eigenständige, nur mit den zugelassenen Hilfsmitteln erfolgte Bearbeitung der Prüfungsaufgabe gehört. Eine Täuschung bzw. ein Täuschungsversuch läuft sowohl dem Prüfungszweck, das Leistungsvermögen der Prüfungsteilnehmer unverfälscht, d. h. im Rahmen der Prüfungsbedingungen festzustellen, als auch dem prüfungsrechtlichen Grundsatz der Chancengleichheit zuwider3. Eine Täuschungshandlung liegt auch dann vor, wenn sich der Prüfling vor der schriftlichen Prüfung die geheim gehaltenen Prüfungsaufgaben verschafft und sich entsprechend für die Prüfung präpariert4 oder wenn er – darüber hinaus – eine von ihm in Kenntnis der internen Musterlösung erstellte Prüfungsarbeit als eigene Prüfungsleistung ausgibt1. Die Beurteilung, ob ein Täuschungsversuch anzunehmen ist, unterliegt in tatsächlicher und rechtlicher Hinsicht der uneingeschränkten verwaltungsgerichtlichen Nachprüfung5. Die Prüfungsbehörde bzw. das für die Leitung der Prüfung zuständige Prüfungsorgan trägt die materielle Beweislast dafür, dass die von ihr bzw. ihm angenommenen Voraussetzungen einer Täuschung vorliegen. Das bedeutet, dass von der Annahme einer Täuschung abgesehen werden muss und die Leistungen in der üblichen Form bewertet werden müssen, wenn die Beweismittel für die Feststellung der Umstände nicht ausreichen, die mit hinreichender Gewissheit eine Täuschung oder deren Versuch ergeben6. Allerdings können die objektiven und subjektiven Voraussetzungen des Täuschungsversuchs durch den Beweis des ersten Anscheins bewiesen werden, wenn sich aufgrund der feststehenden Tatsachen bei verständiger Würdigung der Schluss aufdrängt, dass der Prüfungsteilnehmer getäuscht hat. So kann je nach den Umständen des Einzelfalles mit den Mitteln des Anscheinsbeweises sowohl der Nachweis einer Regelverletzung als auch der Nachweis des Täuschungsvorsatzes geführt werden7. Spricht der erste Anschein für das Vorliegen einer Regelverletzung oder des Täuschungsvorsatzes, so ist es Sache des Prüfungsteilnehmers, die Schlussfolgerung, auf der dieser Anschein beruht, zu entkräften. Hierfür reicht es nicht aus, die Denkmöglichkeit eines dem Anschein nicht entsprechenden Ablaufs aufzuzeigen. Vielmehr muss der Prüfungsteilnehmer nachvollziehbar und in sich stimmig die Tatsachen schildern und gegebenenfalls beweisen, aus denen sich die ernsthafte Möglichkeit eines vom Regelfall abweichenden Verlaufs ergibt. Gelingt dies, so obliegt der Prüfungsbehörde der sog. Vollbeweis8.
Verwaltungsgericht Karlsruhe, Urteil vom 24. März 2010 – 7 K 1873/09
- vgl. BVerwG, Beschluss vom 20.02.1984, Buchholz 421.0 Prüfungswesen Nr. 196[↩][↩]
- Verordnung des Kultusministeriums über die Jahrgangsstufen sowie über die Abiturprüfung an Gymnasien der Normalform und Gymnasien in Aufbauform mit Heim (Abiturverordnung Gymnasien der Normalform – NGVO) vom 24.07.2001, GBl. 2001, 518, in der hier maßgeblichen Fassung der Verordnung vom 05.08.2007, GBl. S. 386[↩]
- Niehues, Schul- und Prüfungsrecht, Band 2 Prüfungsrecht, 4. Aufl., Rdnrn. 447, 448 m. w. N.[↩]
- vgl. VGH B-W, Urteil vom 22.11.1977 – IX 972/75[↩]
- OVG NRW, Urteil vom 30.08.1985 – 15 A 706/82, NVwZ 1986, 851[↩]
- Niehues, a. a. O., Rdnr. 455[↩]
- Niehues, a. a. O., Rdnr. 456; BVerwG, Beschluss vom 20.02.1984, a. a. O.[↩]
- vgl. Sächs. OVG, Beschluss vom 30.04.2003, a. a. O., m. w. N.[↩]