Die Schätzung von Besteuerungsgrundlagen kann nur ausnahmsweise, nämlich bei Vorliegen von Willkürmaßnahmen, zur Nichtigkeit des Schätzungsbescheides führen.
Eine Nichtigkeit dieses Bescheides scheidet schon aus, wenn dieser nicht unter einem besonders schwerwiegenden, bei verständiger Würdigung aller in Betracht kommenden Umstände offenkundigen Fehler leidet (§ 125 Abs. 1 AO).
Im vorliegenden Fall musste das Finanzamt aufgrund der fehlenden Einkommensteuererklärung die Besteuerungsgrundlagen der Kläger für das Streitjahr gemäß § 162 Abs. 2 Satz 1 AO schätzen. Dabei erweist sich die Schätzung der gewerblichen Einkünfte als jedenfalls nicht nichtig. Anhaltspunkte für eine Strafschätzung sind nicht erkennbar.
Da die Kläger im hier entschiedenen Rechtstreit (zum wiederholten Male) keine Einkommensteuererklärung einreichten, war das Finanzamt nach § 162 Abs. 1 Satz 1 AO zur Schätzung ihrer Besteuerungsgrundlagen, u.a. der Einkünfte aus Gewerbebetrieb der Klägerin, berechtigt und verpflichtet. Schließlich konnte es in Folge dieses Verstoßes der Kläger gegen ihre Mitwirkungspflichten zur Abgabe der Einkommensteuererklärung (§ 149 Abs. 1 Satz 1 AO i.V.m. § 25 Abs. 3 EStG, § 56 der Einkommensteuer-Durchführungsverordnung) deren Besteuerungsgrundlagen nicht ermitteln oder berechnen (§ 162 Abs. 2 Satz 1 AO).
Ausgehend von den höchstrichterlichen Grundsätzen zur Schätzung bei Nichtabgabe der Steuererklärung hat das Finanzgericht zu Recht erkannt, dass die Schätzung nicht nichtig war.
Bei einer Schätzung der Besteuerungsgrundlagen sind nach § 162 Abs. 1 Satz 2 AO alle Umstände zu berücksichtigen, die für die Schätzung von Bedeutung sind. Das gewonnene Schätzungsergebnis muss schlüssig, wirtschaftlich möglich und vernünftig sein1. Ausnahmsweise kann eine fehlerhafte Schätzung die Nichtigkeit des auf ihr beruhenden Verwaltungsakts zur Folge haben, wenn sich das Finanzamt nicht an den wahrscheinlichen Besteuerungsgrundlagen orientiert, sondern bewusst zum Nachteil des Steuerpflichtigen geschätzt hat. Willkürmaßnahmen, die mit den Anforderungen an eine ordnungsgemäße Verwaltung schlechterdings nicht zu vereinbaren sind, können ebenfalls einen besonders schweren Fehler i.S. von § 125 Abs. 1 AO darstellen2. Dabei gilt eine letztlich dreigestufte Abfolge3:
Während auch eine Schätzung, die sich am oberen Rand des einzelfallabhängigen Schätzungsrahmens orientiert, noch als rechtmäßig gilt, führt eine solche, die jenen Rahmen nach oben (oder unten) verlässt, (lediglich) zur Rechtswidrigkeit und Anfechtbarkeit. Eine Schätzung erscheint nämlich nicht schon deswegen als rechtswidrig, weil sie von den tatsächlichen Verhältnissen abweicht; solche Abweichungen sind notwendig mit einer Schätzung verbunden, die in Unkenntnis der wahren Gegebenheiten erfolgt. Insbesondere kann sich das Finanzamt -wie im Streitfall- bei der Verletzung der Erklärungspflicht durch den Steuerpflichtigen an der oberen Grenze des Schätzungsrahmens orientieren, weil der Steuerpflichtige möglicherweise Einkünfte verheimlichen will.
Selbst grobe Abweichungen vom Schätzungsrahmen haben regelmäßig nur die Rechtswidrigkeit, nicht aber die Nichtigkeit zur Folge.
Gründet sich die insoweit fehlerhafte Schätzung -dritte Stufe- allerdings darauf, dass sich die Finanzbehörde entgegen dem Regelungsauftrag in § 162 Abs. 1 AO nicht an den wahrscheinlichen Besteuerungsgrundlagen orientiert, sondern bewusst zum Nachteil des Steuerpflichtigen schätzt, kann ein zur Nichtigkeit führender besonders schwerer Fehler i.S. von § 125 Abs. 1 AO vorliegen (sog. subjektive Willkürmaßnahme). Denn Willkürmaßnahmen, die mit den Anforderungen an eine ordnungsgemäße Verwaltung schlechterdings nicht zu vereinbaren sind, können einen besonders schweren Fehler gemäß § 125 Abs. 1 AO darstellen4. Die Schätzung darf insbesondere auch nicht dazu verwendet werden, „die Steuererklärungspflichtverletzung zu sanktionieren und den Steuerpflichtigen zur Abgabe der Erklärungen anzuhalten“; „Strafschätzungen“ eher enteignungsgleichen Charakters sind zu vermeiden5.
Selbiges gilt, wenn ein ebenfalls als fehlerhaft zu disqualifizierendes Schätzungsergebnis trotz vorhandener Sachverhaltsaufklärungsmöglichkeiten krass von den tatsächlichen Gegebenheiten abweicht und in keiner Weise erkennbar ist, dass überhaupt und ggf. welche Schätzungserwägungen angestellt wurden, sog. objektive Willkürmaßnahme6.
Nach diesen Grundsätzen ist der hier streitgegenständliche Einkommensteuerbescheid nicht nichtig.
Nach den erklärten Gewinnen und Umsätzen der Klägerin konnte das Finanzamt zunächst davon ausgehen, dass der Umsatz ihrer gewerblichen Tätigkeit moderat stieg. Die erklärten Umsätze erhöhten sich teilweise um etwa 1.500 € (2001 zu 2000 bzw. 2005 zu 2004) bzw. sogar um 3.000 € (2003 zu 2002). Die Einkünfte schwankten demgegenüber zwischen – 1.535 € (2002) und 4.788 € (2005), wobei angesichts der grundsätzlichen Umsatzsteigerungen ein Zusammenhang zwischen Betriebseinnahmen und Betriebsausgaben nicht offensichtlich ist. So hatte sich vom Jahr 2004 auf 2005 der Gewinn bei einer Umsatzerhöhung um lediglich etwa 1.500 € mehr als verdoppelt.
Angesichts dieser Zahlen erscheint es jedenfalls denkbar, dass sowohl die Umsätze als auch die Gewinne hohen Schwankungen unterworfen waren. Eine Verdoppelung der Gewinne in einzelnen Jahren war demnach ebenso möglich wie eine konstante moderate jährliche Erhöhung des Gewinns. Dies gilt insbesondere angesichts der Art der Tätigkeit, die nicht hauptberuflich ausgeübt wurde, so dass Veränderungen des Arbeitseinsatzes -und damit erhebliche Umsatz- und Gewinnschwankungen- deutlich häufiger zu erwarten sind als bei Tätigkeiten, die konstant die gesamte Arbeitskraft des Gewerbetreibenden in Anspruch nehmen.
Dies bestätigt auch die folgende Alternativüberlegung: Hätte das Finanzamt den zuletzt erklärten Gewinn für das Jahr 2005 in Höhe von rund 5.000 € um jährliche Beträge, ausgehend von den maximalen Umsatzsteigerungen der Vergangenheit, also um 3.000 € erhöht, wäre der so ermittelte Gewinn mit etwa 17.000 € folgerichtig gewesen. Da die Betriebsausgaben nicht bzw. nicht notwendigerweise in gleichem Maße steigen mussten, zeigt schon diese Alternativüberlegung, dass die Schätzungen in allen Jahren und folglich auch im Streitjahr im Schätzungsrahmen geblieben sind, zumal angesichts der Nichtabgabe der Steuererklärungen unter Hinnahme der Schätzungen über Jahre hinweg auch die (teilweise) Verheimlichung von Einnahmen nicht fernliegend erscheint, dieser Gesichtspunkt den Schätzungsrahmen nach oben erweitert und das Finanzamt sich -wie dargelegt- am oberen Rand des Schätzungsrahmens orientieren darf. Hierfür spricht auch die Tatsache, dass die Kläger die Schätzungsbescheide für die Vor-Streitjahre 2006 bis 2008 -mit Gewinnerhöhungen um jährlich jeweils 2.000 €- und den strittigen Bescheid bestandskräftig werden ließen.
Zudem scheint es im Rahmen einer Tätigkeit als Hundeausbilderin angesichts des vom Finanzgericht ermittelten Kundenpotentials von 40 000 Einwohnern im näheren Umfeld nicht ausgeschlossen, jährliche Einkünfte aus Gewerbebetrieb von bis zu 16.000 € zu erzielen. Der später von den Klägern erklärte Gewinn für das Streitjahr von etwa 6.700 € stellt dies nicht evident in Frage.
Eine bewusste Schätzung zulasten der Kläger seitens des Finanzamt ist auch ansonsten nicht erkennbar.
Im vorliegenden Fall ist insbesondere nicht anzunehmen, dass das Finanzamt durch seine Schätzungen die (jährlichen) Steuererklärungspflichtverletzungen der Kläger sanktionieren wollte. Das Finanzamt hat vielmehr Schätzungen vornehmen müssen, da ihm konkretere Anhaltspunkte für die Höhe der Einkünfte, gerade für diejenigen der Klägerin, nicht zur Verfügung standen. Andere Mittel, die Einkünfte aus Gewerbetrieb der Klägerin zu bestimmen, gab es nicht. Insbesondere musste das Finanzamt die Klägerin nicht zur Abgabe von Umsatzsteuererklärungen auffordern, da angesichts des Erklärungsverhaltens der Kläger nicht anzunehmen war, dass diese auch tatsächlich eingereicht worden wären. In der Vergangenheit hat die Klägerin jedenfalls keine Umsatzsteuererklärungen eingereicht.
Auch die Schätzung der übrigen Besteuerungsgrundlagen der Kläger lässt keine Gesichtspunkte erkennen, die zur Nichtigkeit des Einkommensteuerbescheides führen könnten. Das Finanzamt setzte die Einnahmen aus nichtselbständiger Arbeit des Klägers entsprechend den elektronischen Daten an. Einkünfte aus Kapitalvermögen durfte das Finanzamt im Streitjahr, dem Jahr der Einführung des besonderen Steuertarifs für Einkünfte aus Kapitalvermögen, nicht mehr schätzen. Ohne Antrag nach § 32d Abs. 4 bzw. Abs. 6 EStG war schon nicht klar, ob diese Einkünfte im Rahmen der Einkommensteuerfestsetzung zu berücksichtigen waren. Den Sonderausgabenabzug pauschalierte das Finanzamt. Auch der Nichtansatz der im Streitjahr gezahlten Kirchensteuern führte nicht zur Nichtigkeit des Steuerbescheides, da dies jedenfalls kein schwerwiegender Fehler i.S. des § 125 Abs. 1 AO war.
Bundesfinanzhof, Urteil vom 21. August 2019 – X R 16/17
- ständige höchstrichterliche Rechtsprechung, vgl. etwa BFH, Urteil vom 15.07.2014 – X R 42/12, BFH/NV 2015, 145, Rz 21, m.w.N., und BFH, Urteil vom 12.12.2017 – VIII R 6/14, BFH/NV 2018, 606, Rz 60[↩]
- BFH, Urteil in BFH/NV 2018, 606, Rz 40, m.w.N.[↩]
- so schon BFH, Beschluss vom 06.08.2018 – X B 22/18, BFH/NV 2018, 1237, Rz 17 unter Hinweis auf BFH, Urteil in BFH/NV 2015, 145[↩]
- so schon BFH, Urteil vom 15.05.2002 – X R 33/99, BFH/NV 2002, 1415, Rz 19, m.w.N.[↩]
- BFH, Urteil vom 20.12.2000 – I R 50/00, BFHE 194, 1, BStBl II 2001, 381, Rz 21[↩]
- vgl. BFH-Entscheidungen in BFH/NV 2018, 1237, Rz 17; in BFH/NV 2015, 145, Rz 24, sowie vom 15.05.2002 – X R 34/99 unter II. 3. und 4.[↩]
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