Nach § 173 Abs. 1 Nr. 2 AO sind Steuerbescheide aufzuheben oder zu ändern, soweit Tatsachen oder Beweismittel nachträglich bekannt werden, die zu einer niedrigeren Steuer führen und den Steuerpflichtigen kein grobes Verschulden daran trifft, dass die Tatsachen oder Beweismittel erst nachträglich bekannt werden. Eine solche Tatsache kann, wie ein Urteil des Hessischen Finanzgerichts zeigt, in bestimmten Fällen auch eine zunächst nicht berücksichtigte Gewerbesteuerzahlung sein.
Die Gewerbesteuerzahlung als Tatsache
Tatsache im Sinne des § 173 Abs. 1 Nr. 2 AO ist alles, was Merkmal oder Teilstück eines gesetzlichen Steuertatbestandes sein kann, also Zustände, Vorgänge, Beziehungen und Eigenschaften materieller oder immaterieller Art, nicht dagegen Schlussfolgerungen, insbesondere nicht juristische Subsumtionen1. Neu ist eine Tatsache dann, wenn sie dem zuständigen Bediensteten des Finanzamts beim Abschluss der Willensbildung in Bezug auf den zu ändernden Steuerbescheid nicht bekannt war2. Hierzu sind in der Rechtsprechung folgende Grundsätze herausgearbeitet worden:
Der zuständigen Dienststelle gilt grundsätzlich dasjenige als bekannt, was sich aus dem Inhalt der von ihr geführten Akten ergibt; auf die individuelle Kenntnis des Bearbeiters kommt es nicht an3.
Nach den auch im Steuerrecht geltenden Grundsätzen von Treu und Glauben gilt eine Tatsache dann nicht als neu, wenn sie sich zwar nicht ausdrücklich aus den Akten ergibt, das Finanzamt aber bei ausreichender Erfüllung der amtlichen Ermittlungspflicht davon hätte Kenntnis erlangen können4.
Offen ist hingegen die Frage, ob auch der erste erwähnte Grundsatz nur im Rahmen des § 173 Abs. 1 Nr. 1 AO gilt, d.h. ob im Rahmen des § 173 Abs. 1 Nr. 2 AO nur solche Tatsachen als bekannt anzusehen sind, von denen der zuständige Sachbearbeiter beim Erlass des Steuerverwaltungsakts tatsächlich positiv Kenntnis genommen hat, oder aber auch solche, von denen er aufgrund der ihm bei der Bearbeitung vorliegenden Steuerakten Kenntnis nehmen konnte. Die Frage ist in dem BFH-Urteil vom 13.06.19895 unter Hinweis darauf, dass (auch) der erste Grundsatz in der Rechtsprechung des BFH zu § 173 Abs. 1 Nr. 1 AO entwickelt worden ist, dahingehend problematisiert worden, ob nicht im Rahmen des § 173 Abs. 1 Nr. 2 AO nur solche Tatsachen als bekannt anzusehen sind, von denen der zuständige Sachbearbeiter beim Erlass eines Verwaltungsakts positive Kenntnis genommen hat oder „aufgrund der Steuererklärung“ Kenntnis nehmen konnte; die Frage ist aber letztlich offen geblieben. In dem Urteil in BStBl. II 1997, 422, hat der BFH sodann allerdings – wie oben ausgeführt – zwar erkannt, dass im Rahmen des § 173 Abs. 1 Nr. 2 AO eine Tatsache nicht als bekannt gelten könne, die der zuständige Beamte lediglich hätte kennen können oder kennen müssen; das FA könne sich nicht zum Nachteil des Steuerpflichtigen auf sein eigenes Versäumnis oder Verschulden berufen. Unklar bleibt aber auch hiernach, ob damit zugleich die Geltung des ersten Grundsatzes im Rahmen des § 173 Abs. 1 Nr. 2 AO in Frage gestellt werden sollte, zumal sich das in Bezug genommene Urteil des BFH in BStBl. III 1967, 519, ausdrücklich nur zur Frage des Bekanntseins von Tatsachen, die sich nicht ausdrücklich aus den Akten ergeben, auslässt. Die Verwaltung hat zwar die Formulierungen in den vorgenannten Urteilen des BFH in den AEAO zu § 173 in Nr. 2.3.6 und 4.2 übernommen; auch hier bleibt aber die Beantwortung der Frage nach der Geltung des Grundsatzes zu a) im Rahmen des § 173 Abs. 1 Nr. 2 AO letztlich unklar. Im Übrigen gibt es zur Fragestellung unterschiedliche Auffassungen:
Nach dem Urteil des FG Berlin vom 02.07.19746 gilt der Grundsatz, dass das Finanzamt solche Tatsachen, die sich aus den bei der für die Veranlagung zuständigen Dienststelle geführten Akten ergeben, als bekannt gegen sich gelten lassen muss, nicht bei einer Änderung zugunsten des Steuerpflichtigen nach § 222 Abs. 1 Nr. 2 RAO7. Denn das Finanzamt habe nach § 204 Abs. 1 Satz 2 RAO8 den Steuerfall auch zugunsten des Steuerpflichtigen zu erforschen und zu prüfen. Mit dieser selbstverständlichen Verpflichtung sei es nicht zu vereinbaren, wenn das Finanzamt die Änderung eines bestandskräftigen Steuerbescheids zugunsten des Steuerpflichtigen mit der Begründung verweigere, die die Änderung rechtfertigenden Tatsachen oder Beweismittel seien nicht neu, weil sie ihm bei pflichtgemäßer Sachaufklärung bereits im Zeitpunkt der Veranlagung hätten bekannt sein müssen9. Soweit sich die Literatur mit dieser Frage überhaupt explizit beschäftigt, wird diese Auffassung geteilt10. Nach den Urteilen des BFH11 sollen dagegen auch im Rahmen einer Änderung nach § 173 Abs. 1 Nr. 2 AO dem Finanzamt alle diejenigen Tatsachen als bekannt gelten, die sich aus den von der zuständigen Stelle geführten Akten ergeben. Die Fragestellung wird in diesen Entscheidungen allerdings nicht problematisiert. Vielmehr wird lediglich auf andere BFH-Entscheidungen Bezug genommen, die jedoch zu § 173 Abs. 1 Nr. 1 AO ergangen sind und deshalb als Beleg für die vertretene Auffassung ungeeignet sind.
Nach Auffassung des erkennenden Senats ist der Ansicht des FG Berlin und der Literatur zu folgen. Denn die beiden erwähnten Grundsätze, die sich lediglich darin unterscheiden, dass sie sich zum einen auf aus den vorliegenden Akten ersichtlichen Tatsachen, die der Bearbeiter nicht zur Kenntnis genommen hat, zum anderen auf Tatsachen, die bei gehöriger Beachtung der Amtsermittlungspflicht – gerade bei einer vorbehaltlosen Steuerfestsetzung wie im Streitfall – außerhalb der Akten hätten ermittelt werden können oder müssen, beziehen, sind beide zu § 173 Abs. 1 Nr. 1 AO zum Schutz des Steuerpflichtigen herausgearbeitet worden, um ihn vor Änderungsveranlagungen zu seinen Ungunsten zu bewahren, die durch ein pflichtwidriges Verhalten oder unsorgfältiges Arbeiten des Finanzamts verursacht worden sind. Bei einer Änderung zugunsten des Steuerpflichtigen bedarf es nicht nur dieses Schutzes nicht; vielmehr würde sich die Anwendung der Grundsätze in ihr Gegenteil verkehren dergestalt, dass sich das Finanzamt zum Nachteil des Steuerpflichtigen auf pflichtwidriges Verhalten (Nichterfüllung der Ermittlungspflichten, Nichtbeachten des vorliegenden Akteninhalts) berufen könnte, was mit dem Grundsatz von Treu und Glauben gerade nicht vereinbar wäre. Insoweit trifft die Begründung des BFH12 für beide Grundsätze uneingeschränkt zu, so dass auch der erste Grundsatz im Rahmen des § 173 Abs. 1 Nr. 2 AO keine Geltung beanspruchen kann.
Für den Streitfall ergibt sich hiernach, dass die Tatsache der Gewerbesteuerzahlungen im Streitjahr erst nachträglich bekannt geworden ist: Es ist davon auszugehen, dass die Vorgänge betreffend das Stundungsbegehren des Klägers (Schreiben vom 15.05. und vom 10.07.2000) im Zeitpunkt des Abschlusses der Bearbeitung der Steuererklärung für das Streitjahr 2000 im April 2001 Bestandteil der der Veranlagungsstelle vorliegenden Akten waren, da auch die Stundungsanträge von den Bearbeitern bzw. Bearbeiterinnen der Veranlagungsstelle bearbeitet worden waren und in dem vorliegenden Band Einkommensteuerakten „1998 – VZ 2000“ abgeheftet sind. Aus diesen Stundungsvorgängen ergab sich, dass der Kläger im Streitjahr zumindest rund 30.000 DM Gewerbesteuer an die Gemeinde gezahlt hatte (Schreiben vom 10.07.2000). Wieso der Beklagte, nachdem er zunächst ein nachträgliches Bekanntwerden der Gewerbesteuerzahlungen sogar verneint hatte, nunmehr zuletzt geltend macht, für ihn sei wegen des beantragten Zahlungsaufschubs (Schreiben des Klägers vom 15.05.2000) nicht erkennbar gewesen, wann tatsächlich Zahlungen von Gewerbesteuer erfolgt seien, ist nicht recht nachvollziehbar. Wie auch immer ist jedenfalls davon auszugehen, dass der Bearbeiter bzw. die Bearbeiterin den sich aus den Stundungsvorgängen ergebenden Umstand, dass der Kläger im Streitjahr offenkundig tatsächlich Gewerbesteuer gezahlt hatte, nicht zur Kenntnis genommen hatte; denn es muss weiterhin davon ausgegangen werden, dass er/sie anderenfalls vor der Veranlassung einer vorbehaltlosen Steuerfestsetzung pflichtgemäß Ermittlungen hinsichtlich der Höhe der Gewerbesteuerzahlungen angestellt hätte (§ 88 AO).
Kein grobes Verschulden
Den Kläger trifft nach Auffassung des FG auch kein grobes Verschulden an dem nachträglichen Bekanntwerden der Gewerbesteuerzahlungen.
Als grobes Verschulden hat der Steuerpflichtige Vorsatz und grobe Fahrlässigkeit zu vertreten. Das Vorliegen von Vorsatz oder grober Fahrlässigkeit ist im Wesentlichen eine Tatfrage. Vorsatz scheidet vorliegend von vornherein aus.
Grobe Fahrlässigkeit ist anzunehmen, wenn der Steuerpflichtige die ihm nach seinen persönlichen Fähigkeiten und Verhältnissen zumutbare Sorgfalt in ungewöhnlichem Maße und in nicht entschuldbarer Weise verletzt13. Ein Steuerpflichtiger handelt grob fahrlässig, wenn er unbeachtet lässt, was im gegebenen Fall jedem hätte einleuchten müssen oder die einfachsten ganz naheliegenden Überlegungen nicht anstellt, wenn er eine in einem Steuererklärungsformular ausdrücklich gestellte, auf einen bestimmten Vorgang bezogene Frage nicht, unvollständig oder falsch beantwortet oder wenn er sich aufdrängenden Zweifelsfragen nicht nachgeht14. Der Mangel an steuerrechtlichen Kenntnissen vermag indes bei einem Steuerpflichtigen ohne einschlägige Ausbildung den Vorwurf grober Fahrlässigkeit allein nicht zu begründen15, und zwar selbst bei einem „Berufsjuristen“ ohne Tätigkeit oder Vorbildung auf dem Gebiet des Steuerrechts nicht16, es sei denn, der Steuerpflichtige geht einer Zweifelsfrage nicht nach, die sich ihm hätte aufdrängen müssen17.
Im Streitfall kann dem Kläger nicht vorgeworfen werden, dass er eine in einem Steuerformular ausdrücklich gestellte Frage nicht beachtet habe. Die Anlage GSE enthält keine Frage zu gezahlter Gewerbesteuer. Auch eine Ausfüllanleitung hierzu existiert nicht. Mithin müsste der Vorwurf grober Fahrlässigkeit daran anknüpfen, dass der Kläger nicht erkannt hat, dass die gezahlte Gewerbesteuer als Betriebsausgabe abzugsfähig ist oder sein könnte. Den Gesamtumständen nach lässt sich dieser Vorwurf nicht rechtfertigen. Die Ausbildung und der berufliche Werdegang des Klägers weist keinen Bezug zum Steuerrecht auf. Der 19… geborene Kläger hat nach dem Realschulabschluss die Fachoberschule mit der Fachrichtung Bauwesen absolviert. Alsdann hat er ein Studium an der Fachhochschule im Studiengang Bauwesen begonnen, dieses jedoch … abgebrochen. Anschließend war er nichtselbständig im Bereich Baufinanzierung tätig und ist während dieser Zeit im Bereich Aktienfonds angelernt worden. Später hat er sich zunächst als Versicherungs- und Bausparkassenvertreter, sodann als Fondsberater und –vermittler selbständig gemacht. Die Gewinnermittlung durch Überschussrechnung hat er für das erste Jahr seiner selbständigen gewerblichen Tätigkeit durch einen Steuerberater erstellen lassen. Die Gewinnermittlungen hat er danach selbst erstellt und sich dabei jeweils an der ersten fachkundig erstellten Gewinnermittlung als Muster orientiert. Zur Festsetzung eines Gewerbesteuermessbetrags ist es wegen nunmehr entsprechender Gewinne erstmals für 1997 durch Bescheid vom 02.11.1999 gekommen mit der Folge, dass der Kläger erstmals im Streitjahr 2000 Gewerbesteuer zu zahlen und gezahlt hatte. Unter den dargestellten Umständen – namentlich mangelnde Steuerrechtsausbildung oder –praxis, Orientierung an der ersten fachkundig erstellten Gewinnermittlung noch ohne Gewerbesteuer – beruht die Vorstellung des Klägers, dass gezahlte Gewerbesteuer nicht als Betriebsausgabe abzugsfähig ist, auf mangelnden Steuerrechtskenntnissen, die den Vorwurf grober Fahrlässigkeit angesichts der allgemein anerkannten Kompliziertheit namentlich des deutschen Steuerrechts allein nicht zu rechtfertigen vermögen. Die Vorstellung des Klägers war jedenfalls aus der Sicht eines steuerlichen Laien auch nicht so abwegig, dass sich ihm bei Beachtung der ihm möglichen und zumutbaren Sorgfalt Zweifel hätten aufdrängen und er diesen Zweifeln hätte nachgehen müssen. Denn der Umstand, dass eine Steuer (hier Gewerbesteuer) sich über den Abzug als Betriebsausgabe bei einer anderen Steuer (hier Einkommensteuer) Steuer mindernd auswirkt, muss sich einem steuerlichen Laien nicht zwangsläufig aufdrängen. Dies umso weniger, als sich die Gewerbesteuer nach § 32c EStG (bis 2000) bzw. nach § 35 EStG (ab 2001) durch die Tarifbegrenzung bzw. Steuerermäßigung bei gewerblichen Einkünften ohnehin bereits Einkommensteuer senkend ausgewirkt hat. Wenn ein Steuerpflichtiger mit der Ausbildung und den Fähigkeiten des Klägers unter diesen Umständen, wie er geltend macht, nicht auf die Idee gekommen ist, dass daneben zusätzlich noch ein Abzug der Gewerbesteuer als Betriebsausgabe in Betracht kommen könnte, kann darin keine Verletzung der ihm zuzumutenden Sorgfalt in ungewöhnlichem Maße und in nicht entschuldbarer Weise gesehen werden. Dies umso weniger, als auch der Gesetzgeber der laienhaften Vorstellung des Klägers entsprechend inzwischen das Nebeneinander von Steuerermäßigung nach § 35 EStG und Betriebsausgabenabzug dadurch beseitigt hat, dass nunmehr (ab 2008) der Abzug der Gewerbesteuer als Betriebsausgabe ausgeschlossen worden ist18. Der Streitfall ist hinsichtlich der Bewertung der Schwere des Verschuldens durchaus auch den vom BFH zugunsten des Steuerpflichtigen entschiedenen Fällen vergleichbar, in denen der Steuerpflichtige in unter dem im Erklärungsvordruck verwendeten Begriff „Gewinn“ nur einen positiven Gewinn verstanden hat19 oder mangels Einnahmen gemeint hatte, keine „Einkünfte“ erzielt zu haben20.
Soweit das Finanzamt in dem vom Hessischen Finanzgericht entschiedenen Fall darauf hinweist, dass Unternehmer mit Umsätzen und Gewinnen in der vom Kläger erzielten Höhe überwiegend steuerliche Beratung in Anspruch nähmen, rechtfertigt dies nach Ansicht der Kasseler Finanzrichter keine andere Beurteilung. Denn ein Steuerpflichtiger ist grundsätzlich nicht gehalten, einen Mangel an Kenntnissen abgabenrechtlicher Vorschriften dadurch auszugleichen, dass er sich um fachkundigen Rat bemüht21. Dies würde der ständigen Rechtsprechung des BFH, wonach allein mangelnde steuerrechtliche Kenntnisse des Steuerpflichtigen ohne einschlägige Ausbildung kein grobes Verschulden i.S.v. § 173 Abs. 1 Nr. 2 AO begründen, geradezu zuwider laufen22. Im Streitfall war auch angesichts der einfachen Struktur der von dem Kläger betriebenen Fondsvermittlung und des geringen Umfangs der mit wenigen Positionen auf einer Seite erstellten Einnahme-Überschussrechnung keine Inanspruchnahme steuerlicher Beratung geboten. Hiernach sind Anhaltspunkte für ein grobes Verschulden des Klägers nicht erkennbar. Solche wären vom Beklagten darzulegen und ggf. zu beweisen gewesen. Denn grundsätzlich ist davon auszugehen, dass Fehler des Steuerpflichtigen im Regelfall auf einem Versehen, also auf leichter Fahrlässigkeit, beruhen. Verbleibende Zweifel gehen zu Lasten des Finanzamts, das insoweit die objektive Beweislast (Feststellungslast) trägt23. Unter den gegebenen Umständen kann dahinstehen, ob die Verletzung der Ermittlungs- und Fürsorgepflichten durch den Beklagten für die verspätete Geltendmachung der Gewerbesteuerzahlungen als Betriebsausgaben ursächlich gewesen ist und auch deshalb ein grobes Verschulden des Klägers zu verneinen sein könnte24.
Alternativ: Änderung wegen offenbarer Unrichtigkeit (§ 129 AO)
Wollte man den vorstehenden Ausführungen unter 2. zum nachträglichen Bekanntwerden der Gewerbesteuerzahlungen nicht folgen, so dass die Voraussetzungen des § 173 Abs. 1 AO nicht vorlägen, müsste geprüft werden, ob dann nicht jedenfalls eine Änderung wegen offenbarer Unrichtigkeit nach § 129 AO in Betracht kommt. Die Frage ist indes zu verneinen. Nach § 129 Satz 1 AO kann die Finanzbehörde Schreibfehler, Rechenfehler und ähnliche offenbare Unrichtigkeiten, die beim Erlass eines Verwaltungsakts unterlaufen sind jederzeit berichtigen. Nach Satz 2 der Vorschrift ist bei berechtigtem Interesse des Beteiligten zu berichtigen. Wie sich aus den im Gesetz als Beispielsfällen angeführten Schreib- oder Rechenfehlern ergibt, muss es sich bei den ähnlichen offenbaren Unrichtigkeiten um rein mechanische Versehen handeln, die nichts mit einem Überlegen oder Prüfen zu tun haben. Fehler bei der Auslegung oder (Nicht-)Anwendung einer Rechtsnorm, unrichtige Tatsachenwürdigung, unzutreffende Annahme eines in Wirklichkeit nicht vorliegenden Sachverhalts oder Fehler, die auf mangelnder Sachaufklärung bzw. Nichtbeachtung feststehender Tatsachen bei der Findung einer Entscheidung beruhen, schließen die Anwendung der Vorschrift deshalb aus25.
Denkbar wäre im Streitfall allenfalls, dass der Beklagte eine offenbare Unrichtigkeit in der Steuererklärung mit Überschussrechnung des Klägers als eigene übernommen hat. Dies würde aber voraussetzen, dass die Unrichtigkeit für den Beklagten ohne weiteres aus der Steuererklärung oder den Anlagen hierzu ersichtlich war26. Dies ist jedoch nicht der Fall, da sich die Tatsache der Gewerbesteuerzahlungen im Streitjahr erst aus den Stundungsunterlagen ergab. Die Unrichtigkeit beruht auf Nichtbeachtung der feststehenden Tatsache, dass Gewerbesteuer gezahlt worden war, sowie Unterlassen der Sachaufklärung, die hieran hätte anknüpfen müssen.
Nach dem Urteil des BFH in BStBl. II 1986, 541, soll sich allerdings aus der Rechtsprechung des BFH wiederum nicht der allgemeine Grundsatz entnehmen lassen, dass eine Unrichtigkeit, die auf der Nichtbeachtung von Tatsachen beruht, die dem Finanzamt bei Erlass des Verwaltungsakts bekannt waren oder hätten bekannt sein müssen, nicht in den Regelungsbereich des § 129 AO gehöre. Auch nach dem Urteil des BFH vom 27.03.198727 steht der Anwendbarkeit nicht entgegen, dass eine feststehende Tatsache aus Flüchtigkeit nicht beachtet wurde. Stets muss sich aber die Unachtsamkeit auf die Auswertung gerade der für das Streitjahr vorliegenden Unterlagen beziehen. Hätte die Tatsache, die sich zu Unrecht nicht in der Steuererklärung bzw. Gewinnermittlung niedergeschlagen hat, wie auch im Streitfall erst aus anderen Unterlagen, z.B. den Veranlagungsakten des Vorjahres erkannt werden können, liegt allenfalls eine mangelnde Sachaufklärung infolge Verletzung der Amtsermittlungspflicht vor, die eine Änderung nach § 129 AO ausschließt28. Hiernach kann im Streitfall die vom Kläger erstrebte Änderung zu seinen Gunsten nicht zusätzlich auf § 129 AO gestützt werden.
Hessisches Finanzgericht, Urteil vom 9. Dezember 2008 – 1 K 1169/06
- z.B. BFH, Urteile vom 02.08.1994 – VIII R 65/93, BStBl. II 1995, 264, und vom 14.05.2003 – X R 60/01, BFH/NV 2003, 1144). Der Umstand, dass der Kläger im Streitjahr 2000 Gewerbesteuer an die Gemeinde gezahlt hat, ist eine Tatsache, die zudem auch steuererheblich war, da die Gewerbesteuerzahlungen im Streitjahr als Betriebsausgaben abzugsfähig waren (§§ 4 Abs. 4, 11 Abs. 2 Satz 1 EStG).
Das nachträgliche Bekanntwerden der erfolgten Zahlung
Die Tatsache der Gewerbesteuerzahlungen im Streitjahr ist in dem vom Hessischen Finanzgericht entschiedenen Fall nach Ansicht der Kasseler Richter auch erst nachträglich bekannt geworden:
Im Rahmen der Vorschrift des § 173 Abs. 1 AO kommt es für die Frage des nachträglichen Bekanntwerdens nicht auf die Kenntnis des Steuerpflichtigen, sondern allein auf diejenige des Finanzamts an ((BFH, Urteil vom 29.06.1984 – VI R 34/82, BStBl. II 1984, 694[↩]
- z.B. BFH, Urteil vom 20.06.1985 – IV R 114/82, BStBl. II 1985, 492[↩]
- z.B. BFH, Urteile in BStBl. II 1985, 492, und in BStBl. II 1998, 458, m.w.N.[↩]
- z.B. BFH, Urteil vom 13.11.1985 – II R 208/82, BStBl. II 1986, 241). Dieser Grundsatz ist zu § 173 Abs. 1 Nr. 1 AO zum Schutz des Steuerpflichtigen entwickelt worden, um ihn vor Änderungen zu seinen Ungunsten zu bewahren. Er kann deshalb nach nahezu einhelliger Auffassung nicht auf § 173 Abs. 1 Nr. 2 AO erstreckt werden, da dies darauf hinauslaufen würde, dass sich das Finanzamt zum Nachteil des Steuerpflichtigen auf sein eigenes pflichtwidriges Verhalten berufen würde. Im Rahmen des § 173 Abs. 1 Nr. 2 AO kann deshalb eine Tatsache nicht als bekannt gelten, wenn sie der zuständige Bearbeiter lediglich hätte kennen können oder kennen müssen ((BFH, Urteile vom 13.04.1967 – V 57/65, BStBl III 1967, 519, und in BStBl II 1997, 422; AEAO zu § 173, Nr. 2.3.6 und 4.2; abweichend aber reichlich wirr FG Münster, Urteil vom 10.08.2005 1 K 5419/02 E, EFG 2006, 7, mit zu Recht ablehnender Anm. von Adamek[↩]
- VIII R 174/85, BStBl. II 1989, 789[↩]
- V 20/74, EFG 1975, 142[↩]
- jetzt: § 173 Abs. 1 Nr. 2 AO[↩]
- jetzt: § 88 Abs. 2 AO[↩]
- BFH, Urteil in BStBl. III 1967, 519[↩]
- vgl. Thiel, Jahrbuch der Fachanwälte für Steuerrecht 1977/1978, S. 97, 104 f., Frotscher in Schwarz, AO, § 173 Rz. 67, Szymczak in Koch/Scholtz, AO, 5. Aufl., § 173 Rz. 12, und Rüsken in Klein, AO, 9. Aufl., § 173 Rz. 66; die Berücksichtigung des Akteninhalts ebenfalls als fraglich ansehend das Urteil des FG München vom 06.11.1991 1 K 1214/87, EFG 1992, 430[↩]
- BFH, Urteile vom 31.07.2002 – X R 49/00, BFH/NV 2003, 2, und vom 07.07.2004 – VI R 93/01, HFR 2005, 90[↩]
- in den Urteilen in BStBl III 1967, 519, und in BStBl II 1997, 422[↩]
- z.B. BFH, Urteile vom 09.08.1991 – III R 24/87, BStBl. II 1992, 65, und in BStBl II 1993, 80; AEAO zu § 173, Nr. 5.1[↩]
- Loose in Tipke/Kruse, AO/Finanzgerichtsordnung -FGO-, § 173 AO Tz. 76, mit zahlreichen Nachweisen[↩]
- BFH, Urteile in BStBl II 1993, 80, und vom 21.09.1993 – IX R 63/90, BFH/NV 1994, 99[↩]
- BFH, Urteil vom 10.08.1988 – IX R 219/84, BStBl. II 1989, 131[↩]
- BFH, Beschluss vom 31.01.2005 – VIII B 18/02, BFH/NV 2005, 1212[↩]
- § 4 Abs. 5b EStG i.d.F. des Unternehmenssteuerreformgesetzes vom 14.08.2007, Bundesgesetzblatt I S. 1912[↩]
- BFH, Urteil vom 23.01.2001 – XI R 42/00, BStBl. II 2001, 379[↩]
- BFH, Urteil in BStBl. II 1989, 131[↩]
- von Groll in Hübschmann/Hepp/Spitaler, AO/FGO, § 173 AO Rz. 282[↩]
- BFH, Urteil in BStBl. II 2001, 379[↩]
- BFH, Urteil in BStBl. II 1993, 80, Loose, a.a.O., § 173 AO Tz. 85; a.A. AEAO zu § 173, Nr. 5.1[↩]
- s. AEAO zu § 173, Nr. 5.1.4[↩]
- z.B. BFH, Urteile vom 24.05.1977 – IV R 44/74, BStBl. II 1977, 853, und vom 18.04.1986 – VI R 4/83, BStBl. II 1986, 541, m.w.N.[↩]
- BFH, Urteil vom 24.07.1984 – VIII R 304/81, BStBl. II 1984, 785[↩]
- VI R 63/84, BFH/NV 1987, 480[↩]
- so z.B. BFH, Urteile in BStBl. II 1986, 541, betreffend Übersehen einer Kontrollmitteilung, und in BStBl. II 1997, 422[↩]