Der Ausschluss des Angeklagten während der Zeugenvernehmung – und ihre Simultanübertragung für den Angeklagten

In welcher Weise der Vorsitzende im Fall des Ausschlusses während einer Zeugenvernehmung die durch § 247 Satz 4 StPO gebotene Unterrichtung des Angeklagten vornimmt, wird durch das Gesetz nicht näher bestimmt1.

Der Ausschluss des Angeklagten während der Zeugenvernehmung – und ihre Simultanübertragung für den Angeklagten

Es obliegt der Sachleitungsbefugnis des Vorsitzenden zu beurteilen, wie dies im konkreten Fall erfolgt2. Hinsichtlich des Zeitpunkts der Unterrichtung schreibt das Gesetz jedenfalls vor, dass diese vor der Vornahme jeder weiteren Verfahrenshandlung zu erfolgen hat3.

Die Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs zu der Form der Erfüllung der Unterrichtungspflicht ist insbesondere mit Blick auf die vom Revisionsführer beanspruchte Simultanübertragung der Zeugenvernehmung in einen anderen Raum nicht einheitlich.

Der 3. Strafsenat des Bundesgerichtshofs erachtet eine solche Vorgehensweise als vom Gesetz nicht vorgesehen, die Ablehnung eines darauf gerichteten Antrags des Angeklagten dementsprechend nicht als rechtsfehlerhaft4. Auch werde durch Verweigerung der Übertragung nicht in den Anspruch des Angeklagten auf ein faires, rechtsstaatliches Verfahren eingegriffen5. Ist dem Angeklagten dennoch ermöglicht worden, die Zeugenvernehmung von einem anderen Raum aus zu verfolgen, entbinde dies den Vorsitzenden nicht von seiner Unterrichtungspflicht aus § 247 Satz 4 StPO6.

Im Gegensatz dazu hat der 1. Strafsenat des Bundesgerichtshofs bereits entschieden, dass sogar auf der Grundlage des geltenden Rechts (de lege ferenda)7 die Unterrichtung grundsätzlich auch durch eine Videoübertragung der Zeugenvernehmung in den Raum erfolgen kann, in dem sich der Angeklagte während seines Ausschlusses aufhält8. Jedenfalls für Konstellationen aufgrund der Videoübertragung zweifelsfrei umfassend erfolgter Information des Angeklagten über das Geschehen im Hauptverhandlungssaal während seiner Abwesenheit bedürfe es keiner „nochmals vorgenommene(n) Unterrichtung“; eine solche habe dann „keinen erkennbaren Sinn“9. Bei Fallgestaltungen durch die Videoübertragung nicht hinreichend gesicherter Information des Angeklagten – etwa bei von der Übertragung nicht ohne Weiteres erfasstem Einsatz von Vernehmungsbehelfen – werde es sich allerdings empfehlen, „den Angeklagten so zu unterrichten, wie dies ohne Videoübertragung zu geschehen hat“10.

In Entscheidungen des 4. und des 5. Strafsenats des Bundesgerichtshofs ist in Erwägung gezogen worden, bei Ausschluss des Angeklagten die simultane Videoübertragung einer Zeugenvernehmung als eine Form der Erfüllung der Unterrichtungspflicht aus § 247 Satz 4 StPO zu gestatten11 oder bei erfolgter Übertragung von einer lediglich noch im Umfang reduzierten Pflicht zur nachträglichen Unterrichtung auszugehen12.

Über seine bisherige Rechtsprechung hinaus hält der 1. Strafsenat des Bundesgerichtshofs die Erfüllung der Unterrichtungspflicht aus § 247 Satz 4 StPO durch eine simultane Videoübertragung der während des Ausschlusses erfolgenden Zeugenvernehmung im Grundsatz gegenüber der nachträglichen Unterrichtung über die wesentlichen Inhalte der Vernehmung und der sonstigen Verhandlung seitens des Vorsitzenden für vorrangig13. Dieser grundsätzliche Vorrang ergibt sich aus einer teleologischen Auslegung von § 247 Abs. 4 StPO unter Berücksichtigung des u.a. durch Art. 2 Abs. 1 GG in Verbindung mit dem Rechtsstaatsprinzip aus Art.20 Abs. 3 GG14 sowie Art. 6 Abs. 3 lit. c) (i.V.m. Abs. 1) EMRK15 gewährleisteten Rechts des Angeklagten auf effektive Verteidigung.

Der 1. Strafsenat verkennt dabei nach eigenem Bekunden nicht, dass der Wortlaut von § 247 Satz 4 StPO („sobald dieser wieder anwesend ist“ sowie „von dem wesentlichen Inhalt“) eine simultan erfolgende Videoübertragung des Verhandlungsverlaufs während der Dauer des Ausschlusses an sich nicht nahe legt. Gleiches gilt für die Gesetzesgeschichte bei Heranziehung der Gesetzgebungsakte zur Einfügung von Vorschriften über den Einsatz von Videotechnik im Strafverfahren. Der Gesetzgeber hat weder bei der Schaffung von § 247a StPO durch das Gesetz zum Schutz von Zeugen bei Vernehmungen im Strafverfahren und zur Verbesserung des Opferschutzes16 noch bei der das Verhältnis zu § 247 StPO betreffende Änderung des § 247a StPO durch das Gesetz zur Verbesserung der Rechte von Verletzten im Strafverfahren (OpferRRG)17 Anlass zu die Unterrichtungspflicht betreffenden Anpassungen gesehen. Vielmehr hat er zugrunde gelegt, dass § 247 StPO neben § 247a StPO anwendbar bleibt18 und zunächst in § 247a Satz 1 StPO aF die dort eröffnete Videoübertragung der Zeugenvernehmung in den Sitzungssaal als subsidiär gegenüber dem Ausschluss des Angeklagten gemäß § 247 StPO geregelt19. Mit dem OpferRRG ist diese Subsidiaritätsklausel gerade deshalb gestrichen worden, um mit der Entfernung des Angeklagten aus dem Sitzungssaal verbundene Beeinträchtigungen seiner Verteidigungsinteressen zu vermindern20. Gründe für eine Änderung der im Gesetz vorgesehenen Form der Unterrichtung sind aber nicht gesehen worden.

Ungeachtet dessen erfordern nach Meinung des 1. Strafsenats das Recht des Angeklagten auf effektive Verteidigung und der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz grundsätzlich den Vorrang der Videoübertragung vor der nachträglichen mündlichen Unterrichtung.

Der auf der Grundlage von § 247 Satz 1 oder 2 StPO angeordnete Ausschluss des Angeklagten führt regelmäßig zu erheblichen Einschränkungen seiner Verteidigungsinteressen21. Vor diesem Hintergrund ist nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs § 247 StPO als eine Ausnahme vom Anwesenheitsgrundsatz normierende Vorschrift eng auszulegen22. Die Unterrichtungspflicht aus § 247 Satz 4 StPO dient dazu, die Beschränkung der Verteidigungsinteressen des Angeklagten so gering wie möglich zu halten und diesen in die Lage zu versetzen, den weiteren Gang der Verhandlung sofort zu beeinflussen23. Damit wird zugleich sein Recht auf bestmögliche Verteidigung trotz zeitweiligen Ausschlusses gewahrt24.

Nach soweit wohl allgemein geteilter Einschätzung ermöglicht im Regelfall jedenfalls die störungsfreie Übertragung der Zeugenvernehmung in den Raum, in dem sich der Angeklagte während seines Ausschlusses aufhält, eine umfassendere und zuverlässigere Information über das Geschehen im Sitzungssaal während der Abwesenheit, als dies durch die nachträgliche Unterrichtung seitens des Vorsitzenden möglich ist25. Die Simultanübertragung kann daher regelmäßig den Zweck des § 247 Satz 4 StPO besser erfüllen als die zeitlich dem Ausschluss nachfolgende mündliche Unterrichtung. Damit wird zugleich die Intensität des mit dem Ausschluss verbundenen Eingriffs in die Verteidigungsrechte des Angeklagten gegenüber der Entfernung aus dem Verhandlungssaal ohne eine Videoübertragung verringert26.

Der Vorrang einer Simultanübertragung während der Dauer des Ausschlusses hängt allerdings zum einen von dem Vorhandensein der entsprechenden technischen Voraussetzungen im Gerichtsgebäude ab27. Zum anderen entfällt der Vorrang, wenn im Einzelfall – etwa wegen des Einsatzes von Vernehmungsbehelfen28 – eine höhere Zuverlässigkeit der Informationserlangung gegenüber der nachträglichen mündlichen Unterrichtung nicht zu erwarten ist oder Schutzinteressen der Aussageperson das Informations- und Verteidigungsinteresse des Angeklagten überwiegen. In letztgenannten Konstellationen wird das Tatgericht ohnehin zu erwägen haben, ob der notwendige Interessenausgleich über die Anwendung von § 247a StPO zu finden ist.

Bei der Ausübung seiner Sachleitungsbefugnis (§ 238 Abs. 1 StPO) ist der Vorsitzende damit gehalten, seine Unterrichtungspflicht aus § 247 Satz 4 StPO vorrangig durch die Ermöglichung einer Videoübertragung während der Dauer des Ausschlusses zu erfüllen. Rügt die Revision – wie vorliegend – eine unzureichende Erfüllung der Pflicht aus § 247 Satz 4 StPO, bedarf es dazu einer entsprechenden Beanstandung (§ 238 Abs. 2 StPO) in der tatrichterlichen Hauptverhandlung29.

Die Ablehnung eines Antrags des Angeklagten auf Übertragung der Vernehmung der Zeugin erweist sich bei unterbliebener Ausübung des eröffneten Ermessens hinsichtlich der Form der Unterrichtungspflicht als ermessens- und damit rechtsfehlerhaft. Das Gericht muss erkennbar zum Ausdruck bringen, sich seines Ermessens und erst recht nicht des grundsätzlichen Vorrangs der simultanen Videoübertragung vor der nachträglichen mündlichen Unterrichtung des Angeklagten bewusst gewesen zu sein. Geschieht dies nicht, liegt darin ein Ermessensdefizit.

Auf der rechtsfehlerhaften Ablehnung der Simultanübertragung und der darin liegenden Verletzung von § 247 Satz 4 StPO muss das angefochtene Urteil allerdings auch beruhen.

Durch die (rechtsfehlerfreie) Unterrichtung soll der Angeklagte in die Lage versetzt werden, den weiteren Gang der Verhandlung sofort zu beeinflussen und noch im Zusammenhang mit der von den anderen Prozessbeteiligten gehörten Zeugenaussage Stellung zu nehmen30. Ein Beruhen wird nach Maßgabe dessen insbesondere dann auszuschließen sein, wenn keine Anhaltspunkte dafür ersichtlich sind, dass sich der Angeklagte bei zeitlich früher oder in anderer Form als geschehen erfolgter Unterrichtung wirksamer hätte verteidigen können31.

Bundesgerichtshof, Urteil vom 22. August 2017 – 1 StR 216/17

  1. BGH, Beschluss vom 19.12 2006 – 1 StR 268/06, BGHSt 51, 180, 181 Rn. 15; siehe auch BGH, Urteil vom 19.07.2001 – 4 StR 46/01, NStZ 2001, 608 sowie Kretschmer JR 2007, 258, 259; van Gemmeren NStZ 2001, 263, 264[]
  2. BGH aaO BGHSt 51, 180, 181 Rn. 15; SK-StPO/Frister, 5. Aufl., Band V, § 247 Rn. 71[]
  3. so bereits BGH, Urteil vom 09.01.1953 – 1 StR 620/52, BGHSt 3, 384, 386; siehe auch BGH, Beschluss vom 18.03.1992 – 3 StR 39/92, NStZ 1992, 346; KK-StPO/Diemer, 7. Aufl., § 247 Rn. 14; LR/Becker, StPO, 26. Aufl., § 247 Rn. 45[]
  4. BGH, Beschluss vom 16.06.2009 – 3 StR 193/09, NStZ 2009, 582; vgl. auch bereits Beschluss vom 26.08.2005 – 3 StR 269/05, NStZ 2006, 116[]
  5. BGH, Beschluss vom 16.06.2009 – 3 StR 193/09, NStZ 2009, 582[]
  6. BGH, Beschluss vom 26.08.2005 – 3 StR 269/05, NStZ 2006, 116; zustimmend MünchKomm-StPO/Cierniak/Niehaus, § 247 Rn. 17; krit. etwa Rieck JZ 2007, 745, 747; LR/Becker aaO § 247 Rn. 48; SK-StPO/Frister aaO § 247 Rn. 67[]
  7. vgl. Weigend, Gutachten C für den 62. Deutschen Juristentag, 1998, Verhandlungen des 62. DJT, Band 1, C 53 f. mwN[]
  8. BGH, Beschluss vom 19.12 2006 – 1 StR 268/06, BGHSt 51, 180, 181 ff. Rn. 15 ff.; in der Sache ebenso Kretschmer JR 2007, 258, 259; van Gemmeren NStZ 2001, 263, 264; Rieck JZ 2007, 745, 747 f.; LR/Becker aaO § 247 Rn. 48; SK-StPO/Frister aaO § 247 Rn. 67 f.[]
  9. BGH aaO BGHSt 51, 180, 183 Rn. 18[]
  10. BGH aaO BGHSt 51, 180, 185 Rn. 23 aE; vgl. auch LR/Becker aaO § 247 Rn. 48 aE[]
  11. vgl. BGH, Urteil vom 19.07.2001 – 4 StR 46/01, NStZ 2001, 608; Beschluss vom 11.05.2006 – 4 StR 131/06, NStZ 2006, 713, 714 Rn. 5 sowie BGH, Urteil vom 22.06.1995 – 5 StR 173/95, BGHR StPO § 247 Satz 4, Unterrichtung 6 aE; Beschluss vom 10.03.2009 – 5 StR 530/08, StV 2009, 226, 227 f.; siehe auch BGH, Beschluss vom 10.01.2006 – 5 StR 341/05, NJW 2006, 1008, 1009[]
  12. etwa BGH, Beschluss vom 05.02.2002 – 5 StR 437/01, BGHR StPO § 247 Abwesenheit 25 aE[]
  13. in der Sache so bereits Rieck JZ 2007, 745, 747; van Gemmeren NStZ 2001, 263, 264; siehe zudem SK-StPO/Frister aaO § 247 Rn. 67[]
  14. BVerfG, Beschluss vom 06.11.2014 – 2 BvR 2918/10, StraFo 2015, 61, 63[]
  15. vgl. BGH, Beschluss vom 21.04.2010 – GSSt 1/09, BGHSt 55, 87, 90 Rn. 14[]
  16. vom 30.04.1998, BGBl. I S. 820[]
  17. vom 24.06.2004, BGBl. I S. 1354[]
  18. BT-Drs. 13/7165 S. 10 rechte Spalte[]
  19. vgl. BT-Drs. 15/1976 S. 12 linke Spalte; BGH, Urteil vom 19.07.2001 – 4 StR 46/01, NStZ 2001, 608; SK-StPO/Frister aaO § 247 Rn. 12 mwN[]
  20. BT-Drs. 15/1976, S. 12 linke Spalte[]
  21. siehe etwa BGH, Urteil vom 21.10.1975 – 5 StR 431/75, BGHSt 26, 218, 219 f. mwN; KK-StPO/Diemer aaO § 247 Rn. 2; LR/Becker aaO § 247 Rn. 1[]
  22. BGH aaO BGHSt 26, 218, 220; Beschluss vom 21.04.2010 – GSSt 1/09, BGHSt 55, 87, 90 Rn. 14 mwN[]
  23. vgl. nur BGH, Beschluss vom 19.12 2006 – 1 StR 268/06, BGHSt 51, 180, 182 Rn. 15; SK-StPO/Frister aaO § 247 Rn. 65 mwN[]
  24. BVerfG, Beschluss vom 16.03.2006 – 2 BvR 168/04 Rn. 10; BGH aaO BGHSt 51, 180, 182 Rn. 15 mwN[]
  25. BGH aaO BGHSt 51, 180, 182 Rn.15 aE; Rieck JZ 2007, 745, 747; SK-StPO/Frister aaO § 247 Rn. 67 mwN; siehe auch van Gemmeren NStZ 2001, 263, 264; LR/Becker aaO § 247 Rn. 48[]
  26. vgl. van Gemmeren NStZ 2001, 263, 264[]
  27. zu den diesbezüglichen Erwartungen des Gesetzgebers an die Landesjustizverwaltungen siehe BT-Drs. 15/1976 S. 12 linke Spalte[]
  28. vgl. BGH aaO BGHSt 51, 180, 185 Rn. 23[]
  29. siehe BGH, Beschluss vom 10.01.2006 – 5 StR 341/05, NJW 2006, 1008, 1009; LR/Becker aaO § 247 Rn. 56 mwN[]
  30. siehe nur BGH, Beschluss vom 24.09.1997 – 2 StR 422/97, BGHR StPO § 247 Satz 4 Unterrichtung 7[]
  31. vgl. LR/Becker aaO § 247 Rn. 56 mwN[]