Hat eine zuungunsten des Angeklagten eingelegte Revision der Staatsanwaltschaft allein zum Strafausspruch Erfolg, gebietet der Grundsatz des fairen Verfahrens, abweichend von § 353 Abs. 1 StPO auch den Schuldspruch mit den zugehörigen Feststellungen aufzuheben, wenn dieser auf einem im Rahmen einer Verständigung nach § 257c StPO abgelegten Geständnis des Angeklagten beruht.
Nach § 353 Abs. 1 StPO ist ein angefochtenes Urteil zwar nur insoweit aufzuheben, als die Revision für begründet erachtet wird; die Feststellungen unterliegen nur der Aufhebung, sofern sie durch die Gesetzesverletzung betroffen werden (§ 353 Abs. 2 StPO). Gemessen daran wäre lediglich der Strafausspruch mit den zugehörigen Feststellungen aufzuheben und der von dem Rechtsfehler nicht betroffene Schuldspruch würde in Rechtskraft erwachsen.
Hat eine zuungunsten des Angeklagten eingelegte Revision der Staatsanwaltschaft allein zum Strafausspruch Erfolg, gebietet der Grundsatz des fairen Verfahrens aber, abweichend von § 353 Abs. 1 StPO auch den Schuldspruch mit den zugehörigen Feststellungen aufzuheben, wenn dieser – wie hier – auf einem im Rahmen einer Verständigung nach § 257c StPO abgelegten Geständnis des Angeklagten beruht. Das ergibt sich für den Bundesgerichtshof aus Folgendem:
Nach Aufhebung und Zurückverweisung der Sache durch das Revisionsgericht ist das zur Entscheidung berufene Tatgericht nicht an eine Verständigung gebunden, die in der Vorinstanz zustande gekommen war. Zwar ist der Wegfall der Bindungswirkung ausdrücklich nur in den Fällen vorgesehen, in denen rechtlich oder tatsächlich bedeutsame Umstände übersehen worden sind oder sich neu ergeben haben und das Gericht deswegen zu der Überzeugung gelangt, der in Aussicht gestellte Strafrahmen sei nicht mehr tat- oder schuldangemessen, oder in denen das weitere Prozessverhalten des Angeklagten nicht dem Verhalten entspricht, das der Prognose des Gerichtes zugrunde gelegt worden ist (§ 257c Abs. 4 Satz 1 und 2 StPO). Die Bindungswirkung einer Verständigung gilt nach § 257c StPO aber nur für das Gericht, das die der Verständigung zugrunde liegende Prognose abgegeben hat; das nach Zurückverweisung zuständige (neue) Tatgericht ist nach dem Willen des Gesetzgebers nicht an die Verständigung gebunden1. Dies findet seine Rechtfertigung darin, dass andernfalls Richter, die an einer Verständigung nicht beteiligt waren und eine solche mit dem Inhalt auch nicht getroffen hätten, bei ihrem Urteilsspruch gebunden werden könnten. Es entspricht daher sowohl der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs als auch der ganz überwiegenden Auffassung in der Literatur, dass nach Aufhebung und Zurückverweisung der Sache durch das Revisionsgericht das neue Tatgericht nicht an die in der Vorinstanz getroffene Verständigung gebunden ist2.
Die bloße Anwendung von § 353 StPO auf einen solchen Fall würde zudem zu einem nicht tragfähigen Ergebnis führen: Der Schuldspruch würde rechtskräftig, der Strafausspruch mit den zugehörigen Feststellungen aufgehoben und die Sache insoweit zu neuer Verhandlung und Entscheidung zurückverwiesen werden. Das Verschlechterungsverbot (§§ 331, 358 Abs. 2 StPO) gälte nicht, weil die Staatsanwaltschaft die Revision zuungunsten des Angeklagten eingelegt hatte. Das neue Tatgericht wäre nicht an die in der Vorinstanz zustande gekommene Verständigung gebunden und könnte gegen den Angeklagten deshalb eine Strafe verhängen, die über die im ersten Rechtsgang zugesagte Strafobergrenze hinausginge. Ohne Belang bliebe danach, dass der Schuldspruch (auch) auf einem Geständnis beruht, das der Angeklagte im Vertrauen auf diese Zusage abgegeben hatte. Im Ergebnis würde hiernach ein im Hinblick auf eine zustande gekommene Verständigung abgegebenes Geständnis verwertet, obwohl diese keinen Bestand hat. Dies wäre unter dem Gesichtspunkt des Vertrauensschutzes nicht mit dem verfassungsrechtlich abgesicherten Grundsatz des fairen Verfahrens vereinbar. Im Einzelnen:
Der Gesetzgeber hat der Geltung dieses Grundsatzes mit der Regelung des § 257c Abs. 4 Satz 3 StPO für das Verständigungsverfahren ausdrücklich Rechnung getragen3. Danach darf ein im Hinblick auf eine Verständigung abgegebenes Geständnis nicht verwertet werden, wenn die Bindung des Gerichts an die Verständigung entfällt. Zwar ist das gesetzliche Verwertungsverbot in einer wie der hier gegebenen Konstellation nicht unmittelbar anwendbar, weil es nach seinem Wortlaut und seiner systematischen Stellung nur eingreift, wenn sich das Gericht aus einem der in § 257c Abs. 4 Sätze 1 und 2 StPO genannten Gründe von der Verständigung gelöst hat. Ebenso wenig kommt eine entsprechende Anwendung des § 257c Abs. 4 Satz 3 StPO in Betracht4, da es an einer planwidrigen Regelungslücke fehlt5. Die Geltung des Grundsatzes des fairen Verfahrens beschränkt sich im Zusammenhang mit Verständigungen im Sinne des § 257c StPO jedoch nicht auf die der Regelung des § 257c Abs. 4 StPO zugrunde liegende Konstellation. Vielmehr hat der Gesetzgeber mit der Normierung des Verwertungsverbots dem Grundsatz eines auf Fairness angelegten Strafverfahrens allgemein „Rechnung getragen“3; dieser Grundsatz stellt ein dem gesamten Strafverfahren und mithin auch dem gesamten Verständigungsverfahren übergeordnetes Leitprinzip dar6.
Davon ausgehend ist die obergerichtliche Rechtsprechung und die Literatur – teils allerdings unter entsprechender Anwendung von § 257c Abs. 4 Satz 3 StPO – überwiegend der Auffassung, dass ein in der ersten Instanz im Hinblick auf eine Verständigung abgegebenes Geständnis unverwertbar ist, wenn sich das Berufungsgericht von einer in der ersten Instanz erzielten Verständigung lösen will7. Die Beschränkung eines zuungunsten des Angeklagten eingelegten Rechtsmittels der Staatsanwaltschaft auf den Strafausspruch wird dann überwiegend für unwirksam erachtet8.
Der Bundesgerichtshof hat sich aus den gleichen Gründen für ein Verbot der Verwertung des im Hinblick auf eine Verständigung in der ersten Instanz abgegebenen Geständnisses ausgesprochen, wenn das Urteil auf eine Revision der Staatsanwaltschaft aufgehoben wird und das nach Zurückverweisung zur Entscheidung berufene Tatgericht sich nicht von sich aus an die vom Erstgericht zugesagte Strafobergrenze binden will9.
Diesen dem Gebot eines fairen Verfahrens geschuldeten Grundsätzen kann das Revisionsgericht unter den hier gegebenen Umständen nur dadurch gerecht werden, dass es abweichend von § 353 Abs. 1 StPO nicht nur den Strafausspruch, sondern auch den Schuldspruch aufhebt und die Sache insgesamt zu neuer Verhandlung und Entscheidung zurückverweist. Nur so kann das schützenswerte Vertrauen des Angeklagten in das Gegenseitigkeitsverhältnis seines Geständnisses und der zugesagten Strafobergrenze einerseits mit dem Umstand der fehlenden Bindungswirkung des neuen Tatgerichts an die Verständigung andererseits in Einklang gebracht werden. Denn hätte das neue Tatgericht lediglich noch über den Strafausspruch zu entscheiden, könnte es mangels Bindung an die erstinstanzliche Verständigung über die zugesagte Strafobergrenze hinausgehen, obwohl das im Vertrauen auf den Bestand der Verständigung abgegebene Geständnis des Angeklagten infolge der Rechtskraft des Schuldspruchs faktisch die Grundlage für diese Entscheidung bilden würde. Dies wäre aber ebenso wie in den vorgenannten Konstellationen nicht mit dem Grundsatz des fairen Verfahrens vereinbar. Dass das Geständnis in der hier gegebenen Konstellation durch das neue Tatgericht nicht nach § 261 StPO verwertet, sondern infolge der revisionsrechtlichen Regelungen der §§ 353, 354 Abs. 2 StPO und der sich daraus ergebenden Teilrechtskraft bei der Entscheidung über den Strafausspruch ohne weiteres zur Geltung kommen würde, ist für die Frage, ob der Grundsatz des fairen Verfahrens verletzt ist, nicht von entscheidender Bedeutung.
Zu der mit derselben Zielrichtung erhobenen Verfahrensrüge bemerkt der Bundesgerichtshof:
Hält das Gericht trotz veränderter Beurteilungsgrundlage an einer zuvor getroffenen Verständigung fest, kommt ein Verfahrensverstoß gegen § 257c Abs. 4 StPO nur dann in Betracht, wenn der in Aussicht gestellte Strafrahmen nicht mehr tat- oder schuldangemessen ist. Bei der Beantwortung dieser Frage kommt dem Gericht – wie auch sonst bei Wertungsakten im Rahmen der Strafzumessung – ein weiter Beurteilungsspielraum zu. Dieser ist erst überschritten, wenn der zugesagte Strafrahmen nicht mehr mit den Vorgaben des materiellen Rechts in Einklang zu bringen ist und sich damit als unvertretbar erweist10. So liegt der Fall indes nicht. Nach der vom Landgericht angenommenen Milderung gemäß §§ 21, 49 Abs. 1 StGB sah der gesetzliche Strafrahmen die Verhängung einer Freiheitsstrafe von zwei Jahren bis zu elf Jahren und drei Monaten vor; der zugesagte von vier Jahren und sechs Monaten bis zu fünf Jahren und sechs Monaten hielt sich in diesem Rahmen.
Für die neue Hauptverhandlung weist der Bundesgerichtshof auf Folgendes hin: Das in der ersten Hauptverhandlung abgelegte Geständnis des Angeklagten darf verwertet werden, wenn das neue Tatgericht den Rahmen der in der ersten Instanz getroffenen Verständigung nicht verlässt, also insbesondere die Strafobergrenze nicht überschreiten will11. Voraussetzung hierfür ist allerdings, dass der zugesagte Strafrahmen nach dem Inbegriff der neuen Verhandlung mit den Vorgaben des materiellen Rechts in Einklang zu bringen ist12.
Bundesgerichtshof, Urteil vom 23. November 2022 – 5 StR 347/22
- vgl. BT-Drs. 16/12310, S. 15[↩]
- vgl. BGH, Urteile vom 01.12.2016 – 3 StR 331/16, NStZ 2017, 373, 374; vom 26.05.2021 – 2 StR 439/20, StV 2022, 291, 292; Beschluss vom 17.02.2021 – 5 StR 484/20, BGHSt 66, 37; Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, 65. Aufl., § 257c Rn. 27c; KK-StPO/Moldenhauer/Wenske, 8. Aufl., § 257c Rn. 26; SSW-StPO/Ignor/Wegener, 4. Aufl., § 257c Rn. 88; LR/Stuckenberg, StPO, 27. Aufl., § 257c Rn. 64; BeckOK StPO/Eschelbach, 45. Ed., § 257c Rn. 30a; MünchKomm-StPO/Jahn/Kudlich, § 257c Rn. 148; HK-StPO/Temming, 6. Aufl., § 257c Rn. 32; ebenso für die Berufungsinstanz OLG Karlsruhe NStZ 2014, 294, 295 mwN; aA Kuhn StV 2012, 10, 11 f.; siehe auch SK-StPO/Velten, 5. Aufl., § 257c Rn. 29[↩]
- BT-Drs. 16/12310, S. 14[↩][↩]
- so indes OLG Düsseldorf StV 2011, 80, 81[↩]
- vgl. BGH, Beschluss vom 17.02.2021 – 5 StR 484/20, BGHSt 66, 37 mwN[↩]
- vgl. MünchKomm-StPO/Jahn/Kudlich, § 257c Rn. 172[↩]
- vgl. OLG Karlsruhe NStZ 2014, 294, 295; OLG Hamm, Beschluss vom 22.11.2017 – III1 RVs 79/17 Rn.20; OLG Naumburg NStZ 2018, 238, 239; OLG Düsseldorf StV 2011, 80, 81; Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, 65. Aufl., § 257c Rn. 29b; KK-StPO/Moldenhauer/Wenske, 8. Aufl., § 257c Rn. 26; SSW-StPO/Ignor/Wegener, 4. Aufl., § 257c Rn. 116; LR/Stuckenberg, StPO, 27. Aufl., § 257c Rn. 88; BeckOK StPO/Eschelbach, 45. Ed., § 257c Rn. 37; aA HK-StPO/Temming, 6. Aufl., § 257c Rn. 32[↩]
- vgl. OLG Hamm aaO; OLG Düsseldorf aaO, 82; OLG Naumburg aaO; Meyer-Goßner/Schmitt, aaO, § 318 Rn. 17; LR/Stuckenberg, aaO; SSW-StPO/Ignor/Wegener, aaO Rn. 126; BeckOK StPO/Eschelbach, aaO, § 318 Rn. 23; Schneider NZWiSt 2015, 1, 4; offen gelassen von OLG Nürnberg NStZ-RR 2012, 255, 256; siehe auch Wenske NStZ 2015, 137, 143[↩]
- vgl. BGH, Urteile vom 01.12.2016 – 3 StR 331/16, NStZ 2017, 373, 374; vom 26.05.2021 – 2 StR 439/20, StV 2022, 291, 292; Beschluss vom 17.02.2021 – 5 StR 484/20, NStZ 2021, 568, 570 f.; abweichend BGH, Urteil vom 28.02.2013 – 4 StR 537/12, NStZ-RR 2013, 373[↩]
- vgl. BGH, Urteil vom 21.06.2012 – 4 StR 623/11, BGHSt 57, 273, 280[↩]
- vgl. BGH, Urteile vom 26.05.2021 – 2 StR 439/20, StV 2022, 291, 292; vom 23.01.2019 – 5 StR 479/18 Rn. 43; offengelassen BGH, Beschluss vom 17.02.2021 – 5 StR 484/20, NStZ 2021, 568, 571[↩]
- vgl. BGH, Urteil vom 21.06.2012 – 4 StR 623/11, BGHSt 57, 273, 280; Beschluss vom 25.10.2012 – 1 StR 421/12, StV 2013, 193, 194[↩]