Eine satzungsrechtliche Klausel, die einen absoluten Bestandsschutz bekanntermaßen rechtswidriger, geschlechtsbezogen diskriminierender Bescheide zur Feststellung von Rentenanwartschaften vorsieht und den Anwendungsbereich der Neuregelung der Rentenberechnung auf unbeschiedene Mitglieder beschränkt, missachtet die gesetzlichen Grenzen der Bestandskraft von Verwaltungsakten und verletzt Art. 3 Abs. 1 GG.
In dem hier vom Bundesverwaltungsgericht entschiedenen Fall rügt der Antragsteller die Unwirksamkeit des § 15a der Satzung für die Alters, Berufsunfähigkeits- und Hinterbliebenensicherung vom 18.04.2018 (ABH 2018) eines Altersversorgungswerks (AVW), dessen Mitglied er ist. Diese Vorschrift – in der Fassung der Änderung durch Satzung vom 01./2.11.2019 – regelt die Höhe der Altersrentenanwartschaft aus bis zum Jahresende 2006 gezahlten Beiträgen.
Das Altersversorgungswerk (AVW) ist eine teilrechtsfähige Einrichtung der Antragsgegnerin. Es gewährt seinen Mitgliedern beitragsfinanzierte Versorgungsleistungen. Die Höhe der Altersrente war in seinen Alterssicherungsordnungen (ASO) seit 1972 abhängig unter anderem von Geschlecht und Familienstand des Mitglieds geregelt. Eine Satzungsänderung zum 1.01.2000 ersetzte die bisherige Altersrentenstaffelung durch der Satzung nicht beigegebene neue Rechnungsgrundlagen. Die ASO 2005 verwies auf Einzelfallberechnungen anhand neuer, unveröffentlichter Rechnungsgrundlagen, die weiterhin unter anderem nach dem Geschlecht differenzierten. Im Klageverfahren eines anderen Mitglieds beanstandete das Oberverwaltungsgericht die Bekanntmachungsmängel und einen Verstoß gegen § 12 des niedersächsischen Kammergesetzes für die Heilberufe (Heilberufekammergesetz – HKG), weil kein bewährtes Versicherungssystem gewählt worden sei, das eine lebenslange, den Grundbedarf sichernde Versorgung gewährleiste1.
Im Wege der Ersatzvornahme erließ das zuständige Ministerium rückwirkend zum Jahresbeginn 2007 die Satzung für die Alters, Berufsunfähigkeits- und Hinterbliebenensicherung (ABH 2007). Für vor 2007 eingetretene und noch nicht berentete Mitglieder (aktive Altmitglieder) sah § 15 Abs. 2 ABH 2007 eine „beitragsfreie Altersrente“ aus den bis 2006 geleisteten Beiträgen vor. Sie sollte nach den bis zum 31.12.2006 geltenden Rechnungsgrundlagen ermittelt und auf das neue Renteneintrittsalter von 65 Jahren sowie bei Mitgliedern ohne Witwen- oder Witwerrentenanspruch auf die Anwartschaft eines verheirateten Mitglieds umgerechnet werden. Unter dem 14.12.2007 erließ das AVW Bescheide, um den aktiven Altmitgliedern die Höhe ihres beitragsfreien Rentenanspruchs gemäß § 15 Abs. 2 ABH 2007 mitzuteilen. Dabei legte es einen Rechnungszins von durchgehend 4 % bis zum Renteneintritt zugrunde. Laut Begleitschreiben wurde der Rentenanspruch samt dieser Verzinsung festgeschrieben und erläutert, erst für die Beiträge ab 2007 gelte ein Zinssatz von 2, 75 %.
Die Bescheide vom 14.12.2007 sind mindestens 172 Mitgliedern wegen erkennbar fehlerhafter Adressdaten nicht zugegangen, ohne dass seinerzeit deswegen etwas unternommen worden wäre. Bekanntgegebene und angefochtene Bescheide wurden wegen der Fehlerhaftigkeit der bis Ende 2006 angewendeten Rechnungsgrundlagen gerichtlich oder – wie im Fall des Antragstellers – durch das AVW aufgehoben. Das Oberverwaltungsgericht wies jeweils auf die unionsrechtliche Verpflichtung hin, die Höhe der Anwartschaften geschlechtsneutral zu regeln2. Zwei zwecks Korrektur beschlossene rückwirkende Satzungsänderungen beanstandete es in weiteren Verfahren inzident wegen Bekanntmachungsmängeln und Grundrechtsverstößen3.
Daraufhin beschloss die Kammerversammlung der Antragsgegnerin am 18.04.2018 eine Neufassung der Satzung, die nebst Anlagen 1 bis 5 im Juni 2018 bekanntgemacht wurde. In der verfahrensgegenständlichen Fassung der Änderung von 2019 lauten §§ 15 f. ABH 2018 auszugsweise:
§ 15 Höhe der Altersrente
Die Anwartschaft auf Altersrente ergibt sich aus der Addition der durch Beitragszahlungen erworbenen oder zugerechneten Anwartschaften gemäß § 15a bis c unter Berücksichtigung von Ab- oder Zuschlägen gemäß den Absätzen 2 bis 5.
…
§ 15a Anwartschaft für Beiträge bis zum 31.12.2006
Die Höhe der Anwartschaft für Beiträge bis zum 31.12.2006 ist abhängig von Alter und Geburtsjahrgang bei Entstehen der Beitragsverpflichtung.
Für bis zum 31.12.2006 gezahlte Beiträge ergibt sich, soweit sie nicht durch Bescheid gesondert festgestellt ist ( a.F.: sind), die Anwartschaft auf Altersrente (A) aus den für das Kalenderjahr gezahlten Beiträgen, als Produkt aus der Summe der gezahlten Beiträge (B) und dem Rentenfaktor (R), geteilt durch 12 000 und auf zwei Nachkommastellen kaufmännisch gerundet.
A = B x R
000Die Höhe des Rentenfaktors hängt vom Alter (Kalenderjahr – Geburtsjahr) ab, in dem die Beitragsverpflichtung entstand, und ergibt sich aus der folgenden Tabelle: …
Die Summe der in jedem Kalenderjahr; vom Beginn der Mitgliedschaft bis zum Erreichen des Renteneintrittsalters, längstens bis zum 31.12.2006, erworbenen Anwartschaften ergibt den Monatsbetrag der Anwartschaft.
Das AVW informierte den Antragsteller unter dem 24.01.2019 über die Höhe seiner bis Ende 2018 erworbenen Rentenanwartschaft. Mit Schreiben vom 27.03.2019 korrigierte es die Bezifferung, weil der Teilbetrag aus Beiträgen bis 2006 wegen der Aufhebung des seinerzeit vom Antragsteller angefochtenen Bescheides vom 14.12.2007 nach § 15a ABH 2018 zu berechnen und (um 368,66 € monatlich) niedriger sei.
Am 14.06.2019 hat der Antragsteller einen Normenkontrollantrag gegen § 15a ABH 2018 gestellt. Als Antragsgegner hat er zunächst das AVW bezeichnet. Auf gerichtlichen Hinweis hat er den Antrag umgestellt und gegen die Antragsgegnerin gerichtet. Am 13.09.2020 hat er ihn auf Nr. 5 der Änderungssatzung vom 01./2.11.2019 erstreckt, die das Wort „sind“ in § 15a Abs. 2 Satz 1 ABH 2018 durch das Wort „ist“ ersetzte.
Das Niedersächsische Oberverwaltungsgericht hat § 15a ABH 2018 in der Fassung der Änderung durch Nr. 5 der Satzung vom 01./2.11.2019 für unwirksam erklärt4. Der zutreffend gegen die Antragstellerin gerichtete, ungeachtet der Umstellung fristgerechte und zulässigerweise auf § 15a ABH 2018 beschränkte Antrag sei begründet, weil diese Vorschrift Art. 3 Abs. 1 GG verletze und deshalb nichtig sei.
Die hiergegen gerichtete Revision des Antragstellers wies das Bundesverwaltungsgericht als unbegründet zurück; das Oberverwaltungsgericht habe den Normenkontrollantrag revisionsrechtlich fehlerfrei für zulässig gehalten und zu Recht angenommen, § 15a ABH 2018 in der Fassung der Änderung durch Nr. 5 der Satzung vom 01./2.11.2019 verletze das verfassungsrechtliche Gleichbehandlungsgebot des Art. 3 Abs. 1 GG und sei deshalb unwirksam (§ 144 Abs. 4 VwGO):
Die revisionsrechtliche Prüfung hat von der vorinstanzlichen Auslegung der irrevisiblen Satzungsregelung auszugehen und zu prüfen, ob diese Bundesrecht verletzt (§ 137 Abs. 1 und § 173 VwGO i. V. m. § 560 ZPO). Dem angegriffenen Urteil zufolge schließt die Ausnahmeklausel des § 15a Abs. 2 ABH 2018 diejenigen Mitglieder aus dem persönlichen Anwendungsbereich des § 15a ABH 2018 aus, deren aus Beitragszahlungen bis zum 31.12.2006 abgeleitete Rentenanwartschaft durch wirksamen Bescheid gesondert festgestellt ist. Bei ihnen, darunter den Empfängern noch wirksamer Bescheide vom 14.12.2007, richtet sich die Höhe der Rentenanwartschaft aus Beiträgen bis 2006 nach dem jeweiligen Feststellungsbescheid. Bei den übrigen Mitgliedern ist sie nach der neuen Rentenberechnungsformel des § 15a ABH 2018 zu bestimmen.
Diese Auslegung des § 15a ABH 2018 verstößt nicht gegen revisibles Recht. Sie ist insbesondere mit § 43 Abs. 1 und 2 VwVfG vereinbar, der hier gemäß § 1 Abs. 1 NVwVfG anzuwenden ist. Sie stellt weder das Wirksamwerden der Feststellungsbescheide mit deren allfälliger Bekanntgabe in Abrede, noch das Wirksambleiben der Bescheide bis zur behördlichen oder gerichtlichen Aufhebung. Vielmehr geht sie davon aus, dass die Ausnahmeklausel des § 15a Abs. 2 ABH 2018 nur bei wirksamen Bescheiden eingreift und deren Bindungswirkung auch im Fall satzungsrechtlicher Änderungen der Rechnungsgrundlagen sichern soll.
Der Einwand, dabei handele es sich nur um eine deklaratorische Regelung, betrifft nicht die Anwendung des § 43 VwVfG. Der Sache nach wendet er sich gegen die Annahme, die Ausnahmeklausel regele eine rechtfertigungsbedürftige Ungleichbehandlung, und macht geltend, sie bilde nur eine durch höherrangiges Recht vorgegebene Differenzierung ab. Unabhängig davon, dass die Klausel in diesem Fall nur Bestand haben könnte, wenn die im höherrangigen Recht normierte Ungleichbehandlung mit Art. 3 Abs. 1 GG vereinbar wäre, trifft der Einwand nicht zu. § 15a Abs. 2 ABH 2018 nimmt selbst eine Ungleichbehandlung vor, die vor Art. 3 Abs. 1 GG gerechtfertigt werden muss.
Zu Recht geht das angegriffene Urteil davon aus, dass § 15a ABH 2018 den allgemeinen Gleichheitssatz des Art. 3 Abs. 1 GG verletzt.
Aus dieser Gewährleistung folgt die Pflicht, wesentlich Gleiches gleich und wesentlich Ungleiches ungleich zu behandeln. Sie trifft auch den Normgeber und gilt für Belastungen wie für Begünstigungen. Das verwehrt dem Normgeber nicht jede Ungleichbehandlung. Differenzierungen bedürfen jedoch stets der Rechtfertigung durch Sachgründe, die dem Ziel und dem Ausmaß der Ungleichbehandlung angemessen sind. Dabei gilt ein stufenloser, am Grundsatz der Verhältnismäßigkeit orientierter verfassungsrechtlicher Prüfungsmaßstab, dessen Inhalt und Grenzen sich nicht abstrakt, sondern nur nach den jeweils betroffenen unterschiedlichen Sach- und Regelungsbereichen bestimmen lassen. Je nach Regelungsgegenstand und Differenzierungsmerkmalen ergeben sich aus Art. 3 Abs. 1 GG unterschiedliche Grenzen, die von gelockerten, auf das Willkürverbot beschränkten Bindungen bis hin zu strengen Verhältnismäßigkeitserfordernissen reichen können. Eine strengere Bindung kann sich aus den jeweils betroffenen Freiheitsrechten ergeben. Zudem verschärfen sich die verfassungsrechtlichen Anforderungen, je weniger die Merkmale, an die die normative Differenzierung anknüpft, für den Einzelnen verfügbar sind oder je mehr sie sich denen des Art. 3 Abs. 3 GG annähern5. Bei einer Ungleichbehandlung von Personengruppen besteht regelmäßig eine strenge Bindung an den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz. Dies gilt auch, wenn eine Ungleichbehandlung von Sachverhalten mittelbar eine Ungleichbehandlung von Personengruppen bewirkt6.
§ 15a Abs. 2 ABH 2018 regelt eine rechtfertigungsbedürftige Ungleichbehandlung, weil er tatbestandlich zwischen vergleichbaren Sachverhalten differenziert und daran verschiedene Rechtsfolgen knüpft7. Innerhalb der Gruppe der Mitglieder mit Beitragszahlungen bis Ende 2006 unterscheidet er danach, ob sie über einen wirksamen Bescheid zur Feststellung der entsprechenden Anwartschaft verfügen, und bestimmt deren Höhe bejahendenfalls nach dem Bescheid, andernfalls nach der neuen, durch § 15a ABH 2018 eingeführten Rentenberechnungsformel. Diese weicht von den zuvor und auch bei Erlass der Bescheide vom 14.12.2007 angewandten Rechnungsgrundlagen ab. Schon darin liegt die Ungleichbehandlung, ohne dass es auf die im Normenkontrollurteil erörterten praktischen Auswirkungen ankäme.
Auch entfällt der Rechtfertigungsbedarf nicht etwa, weil die satzungsrechtliche Differenzierung durch höherrangiges Recht zwingend vorgegeben wäre. § 15a ABH 2018 hätte die Bindungswirkung der Feststellungsbescheide auch bei Verzicht auf die Ausnahmeklausel unberührt gelassen. Inwieweit solche Bescheide aufgehoben werden dürfen oder müssen, richtet sich jeweils nach §§ 48 f. VwVfG. Auf der Grundlage der bindenden Tatsachenfeststellungen der Vorinstanz (§ 137 Abs. 2 VwGO) ist auch nicht davon auszugehen, dass sämtliche unter die Ausnahmeklausel fallenden Bescheide einer Aufhebung nach §§ 48 f. VwVfG nicht zugänglich wären und keiner ihrer Adressaten in den Anwendungsbereich der neuen Rentenformel hätte einbezogen und danach beschieden werden dürfen.
§ 48 VwVfG ermächtigt zur Rücknahme rechtswidriger Verwaltungsakte, zu denen jedenfalls die Bescheide vom 14.12.2007 zählen. Sie wurden nach § 15 Abs. 2 ABH 2007 aufgrund der bis zum 31.12.2006 angewandten Rechnungsgrundlagen erlassen, die nach den einschlägigen, rechtskräftig gewordenen Entscheidungen des Oberverwaltungsgerichts mangels ordnungsgemäßer Bekanntmachung und wegen materiell-rechtlicher Fehler unwirksam waren. Nach § 48 Abs. 1 VwVfG können diese Bescheide unter den Einschränkungen des Absatzes 2 der Vorschrift zurückgenommen werden, der das rechtsstaatliche Gebot des Vertrauensschutzes (vgl. Art.20 Abs. 3 i. V. m. Art. 2 Abs. 1 und Art. 14 Abs. 1 GG) konkretisiert. Das Rücknahmeermessen ist in jedem Einzelfall entsprechend dem Zweck der Ermächtigung und innerhalb der rechtlichen Ermessensgrenzen auszuüben (§ 40 VwVfG). Dies kann nicht durch abstrakt-generelle Satzungsregelung geschehen. Ob ein Bescheid vom 14.12.2007 zurückgenommen werden darf, ist nur aufgrund einer Prüfung schutzwürdigen Vertrauens des jeweiligen Adressaten zu beurteilen. Es kann sich etwa daraus ergeben, dass der Adressat bereits berentet ist oder das Renteneintrittsalter demnächst erreicht. Aus den vorinstanzlichen Feststellungen ergibt sich aber nicht, dass dies auf alle Adressaten zuträfe. Die einzelfallbezogene Prüfung ist auch wegen § 48 Abs. 2 Satz 3 und 4 VwVfG erforderlich. In den davon erfassten Fällen kann der Adressat sich nicht auf schutzwürdiges Vertrauen berufen und ist der Bescheid in der Regel mit Wirkung für die Vergangenheit zurückzunehmen. Dass ein solcher Fall bei keinem Adressaten vorliegt, ist nicht festgestellt. Die Jahresfrist gemäß § 48 Abs. 4 VwVfG schließt eine Rücknahme der Bescheide ebenfalls nicht generell aus. Sie ist eine Entscheidungsfrist, die erst zu laufen beginnt, wenn die Behörde Kenntnis von sämtlichen für die Ausübung des Rücknahmeermessens im konkreten Fall relevanten Umständen hat. Das ist regelmäßig erst nach der Anhörung des Betroffenen und dessen Stellungnahme oder dem fruchtlosen Verstreichen der Stellungnahmefrist der Fall8.
Die in § 15a Abs. 2 ABH 2018 geregelte Ungleichbehandlung ist verfassungsrechtlich nicht gerechtfertigt.
Zu Recht hat das Oberverwaltungsgericht sich nicht mit einer Kontrolle am Maßstab des Willkürverbots begnügt. Die Differenzierung gemäß § 15a Abs. 2 ABH 2018 muss auch verhältnismäßig sein. Die satzungsrechtliche Regelung der Höhe der Anwartschaft berührt Art. 14 Abs. 1 GG. Unverfallbare beitragsfinanzierte Rentenanwartschaften fallen in den Schutzbereich der Eigentumsfreiheit9. Hier ergibt sich aus § 12 Abs. 6 Nr. 3 HKG und § 15 ABH 2018, dass mit der Beitragszahlung solche Anwartschaften erworben werden. Intensität und Ausmaß der Ungleichbehandlung sprechen ebenfalls für eine strenge Prüfung. Die Rentenanwartschaften dienen der Existenzsicherung im Alter. Der Betrag der monatlichen Rente kann sich bei Anwendung der neuen Berechnungsgrundlage – wie im Fall des Antragstellers – erheblich reduzieren. Entgegen der Auffassung der Antragsgegnerin liegt auch nicht nur eine Ungleichbehandlung von Sachverhalten vor. Die Ausnahmeklausel führt zu einer mittelbaren Ungleichbehandlung von Personengruppen, nämlich den Mitgliedern mit und denen ohne wirksamen Feststellungsbescheid.
Die Differenzierung gemäß § 15a Abs. 2 ABH 2018 genügt den verfassungsrechtlichen Rechtfertigungsanforderungen nicht. Zutreffend hat das Oberverwaltungsgericht bereits einen Verstoß gegen das Willkürverbot bejaht. Die Differenzierung ist auch unverhältnismäßig. Sie ist weder durch ihren Regelungszweck noch durch andere Sachgründe gerechtfertigt. Zum geltend gemachten Zweck, die Bestandskraft wirksamer Feststellungsbescheide zu schützen, ist sie nicht erforderlich. Soweit sie einem darüber hinausgehenden, absoluten Bestandsschutz der Bescheide dient, verfolgt sie keinen legitimen Zweck. Andere sie rechtfertigende Sachgründe liegen nicht vor.
Das zur Differenzierung verwendete Kriterium des wirksamen Feststellungsbescheides ist in zweifacher Hinsicht willkürbehaftet. Zum einen ist der Kreis der Begünstigten wegen der zufallsabhängigen Bekanntgabe der Bescheide willkürlich abgegrenzt; zum anderen beruhen die Feststellungsbescheide selbst auf diskriminierenden Rechnungsgrundlagen.
Nach den bindenden Feststellungen des Oberverwaltungsgerichts war die von der Ausnahmeklausel vorausgesetzte wirksame Bekanntgabe der Feststellungsbescheide bei den Bescheiden vom 14.12.2007 wegen zahlreicher erkennbar fehlerhafter Adressdaten weitgehend vom Zufall abhängig. Dabei kommt es nicht darauf an, inwieweit die Datenfehler, die zu Bekanntgabemängeln führten, auf einer Verletzung von Mitwirkungsobliegenheiten der Betroffenen beruhten. Entscheidend ist, dass die Fehler nach den vorinstanzlichen Feststellungen erkennbar waren, aber nichts unternommen wurde, um sie zu korrigieren oder die in mindestens 172 Fällen deshalb gescheiterte Bekanntgabe nachzuholen – etwa durch Bearbeitung von Rückläufern, Anfragen beim zuständigen Einwohnermeldeamt und erneute Zustellversuche mit korrigierter Anschrift. So kam es zu einer durch Versäumnisse und Zufälle bestimmten Abgrenzung des Kreises derjenigen, die über Feststellungsbescheide verfügen. An diese willkürliche Abgrenzung durfte die rund zehn Jahre später erlassene satzungsrechtliche Differenzierung in § 15a Abs. 2 ABH 2018 nicht anknüpfen.
Willkürbehaftet ist die Differenzierung darüber hinaus, weil sie die Anwartschaften der unter die Ausnahme fallenden Mitglieder durch einen Verweis auf Bescheide bestimmt, deren Beruhen auf gesetzwidrigen und diskriminierenden Rechnungsgrundlagen der Normgeberin bereits seit nahezu zehn Jahren aufgrund rechtskräftiger Entscheidungen des Oberverwaltungsgerichts bekannt war10. Entgegen der Verpflichtung gemäß § 12 Abs. 6 Nr. 3 HKG, die Höhe der Anwartschaften für alle Mitglieder nachvollziehbar abstrakt-generell durch Satzung zu regeln11, erklärt die Ausnahmeklausel des § 15a Abs. 2 ABH 2018 Einzelfallregelungen durch Bescheid für maßgeblich. Die Bescheide vom 14.12.2007 beruhen gemäß § 15 Abs. 2 ABH 2007 auf Rechnungsgrundlagen, die ihrerseits nicht satzungsrechtlich geregelt waren. Stattdessen verwies die Vorschrift auf Einzelfallberechnungen, bei denen geschlechtsbezogen diskriminierende, unveröffentlichte Rechnungsgrundlagen angewandt wurden. Soweit § 15a Abs. 2 ABH 2018 zur Regelung der Anwartschaftshöhe auf solche willkürbehafteten Einzelfallregelungen verweist, ist er ebenfalls von Willkür geprägt.
Abgesehen davon ist seine Ausnahmeklausel auch unverhältnismäßig. Sie lässt sich nicht mit dem von der Antragsgegnerin vorgetragenen Regelungszweck rechtfertigen, die Bestandskraft der Feststellungsbescheide zu gewährleisten. Dieser Zweck ist zwar verfassungsrechtlich legitim. Die Differenzierung ist aber nicht erforderlich, um ihn zu verwirklichen. Satzungsrecht kann die höherrangige gesetzliche Regelung der Bestandskraft weder beschränken noch erweitern. Auch ohne die Ausnahmeklausel dürften Bescheide zur Feststellung der Rentenanwartschaften aus Beiträgen bis 2006 nur unter den Voraussetzungen der §§ 48 ff. VwVfG aufgehoben werden. Umgekehrt kann die Satzung eine nach diesen Vorschriften zulässige Aufhebung von Bescheiden nicht ausschließen. Das gilt nicht nur in Fällen der Ermessensreduzierung auf Null. Auch im Übrigen kann die Satzung die Pflicht zur gesetzeskonformen Ausübung des Rücknahmeermessens nicht suspendieren.
Soweit § 15a Abs. 2 ABH 2018 einen über den gesetzlichen Schutz der Bestandskraft hinausgehenden absoluten Bestandsschutz der Feststellungsbescheide gewährleisten soll, ist er unverhältnismäßig, weil er keinem legitimen Zweck dient. Ein absoluter Bestandsschutz für Bescheide, deren Rechtswidrigkeit bei Erlass der Satzungsregelung seit nahezu zehn Jahren bekannt war, widerspricht § 48 Abs. 1 und 2 VwVfG. Er perpetuiert die rechtswidrige Begünstigung der Adressaten auch, wenn deren Vertrauen in Abwägung mit dem öffentlichen Interesse an einer Korrektur nicht schutzwürdig ist. Außerdem schreibt er die unionsrechts- und verfassungswidrige geschlechtsbezogene Diskriminierung fest (vgl. Art. 3 Abs. 2 GG und Art. 4 der Richtlinie 79/7/EWG des Rates vom 19.12.1978 zur schrittweisen Verwirklichung des Grundsatzes der Gleichbehandlung von Männern und Frauen im Bereich der sozialen Sicherheit, ABl. L 6 S. 24 f.), derentwegen ledige weibliche Mitglieder nach den bis zum 31.12.2006 angewandten, den Bescheiden vom 14.12.2007 zugrundeliegenden Rechnungsgrundlagen bei gleich hohen Beiträgen und gleichem Renteneintrittsalter eine geringere monatliche Rente erhalten als ledige männliche Mitglieder12. Ein absoluter Bestandsschutz zielt darauf ab, die überfällige Beseitigung der geschlechtsbezogenen Diskriminierung für einen wesentlichen Teil der Beitragszeiträume auch dort zu verhindern, wo eine Korrektur nach § 48 VwVfG zulässig und, bei Reduzierung des Rücknahmeermessens auf Null, sogar geboten ist. Dies kommt nicht nur in den Fällen des § 48 Abs. 2 Satz 3 und 4 VwVfG in Betracht, sondern auch, wenn die rechtswidrige Begünstigung wegen der Begrenztheit der verfügbaren Mittel keine gleichheitskonforme Rentenfestsetzung für die übrigen Mitglieder mehr zulässt. Darauf deutet der vom Oberverwaltungsgericht wiedergegebene Vortrag mit Schriftsatz der Antragsgegnerin vom 02.07.2020 hin, wonach die Leistungsfähigkeit des AVW erheblich beeinträchtigt wäre, wenn die Anwartschaft aus Beiträgen bis 2006 für alle Mitglieder nach der den Bescheiden vom 14.12.2007 zugrundeliegenden Berechnungsweise beziehungsweise der bei ledigen Männern angewandten Berechnung ermittelt würde.
Die übrigen von der Antragsgegnerin zur Rechtfertigung der Ausnahmeklausel angeführten Gesichtspunkte können ebenfalls nicht deren Verhältnismäßigkeit begründen.
Zum Schutz rentennaher Mitglieder ist die Regelung weder geeignet noch erforderlich. Sie knüpft nicht an die Rentennähe, sondern an das Vorliegen eines noch wirksamen Bescheides an. Damit lässt sie rentennahe Mitglieder, bei denen die Bekanntgabe des Bescheides gescheitert ist, schutzlos. Gleichzeitig bezieht sie nicht rentennahe Mitglieder ein, die über einen wirksamen Feststellungsbescheid verfügen, und geht insoweit über das Erforderliche hinaus. Nach dem Vortrag der Antragsgegnerin zählt im Übrigen nicht mehr als die Hälfte der unter die Ausnahmeklausel fallenden Anwartschaftsberechtigten zu den rentennahen Mitgliedern. Soweit deren Vertrauen in die Bestandskraft des jeweiligen Bescheides schutzwürdig ist, wird es bereits durch § 48 Abs. 2 VwVfG geschützt.
Auf die Befugnis zur Typisierung kann die Antragsgegnerin sich zur Rechtfertigung der Ausnahmeklausel nicht berufen. Eine generalisierende und typisierende Regelung ist zulässig, wenn sie sich realitätsgerecht am typischen Fall orientiert, die mit ihr verbundenen Härten nur unter Schwierigkeiten vermeidbar wären und lediglich eine verhältnismäßig kleine Zahl von Personen betreffen und wenn der Verstoß gegen den Gleichheitssatz nicht sehr intensiv ist13. Schon die erste Voraussetzung liegt hier nicht vor. § 15a Abs. 2 ABH 2018 behandelt den weitaus größten Teil der Mitglieder mit Beitragszahlungen bis 2006 als Ausnahmefälle, deren Anwartschaftshöhe durch Einzelfallregelungen bestimmt wird. Unter die abstrakt-generelle, typisierende neue Berechnungsregel fallen nur diejenigen Mitglieder, die nicht (mehr) über einen wirksamen Feststellungsbescheid verfügen und deren Zahl sich im niedrigen dreistelligen Bereich bewegt. Gleichzeitig liegt in der Neuregelung eine intensive Ungleichbehandlung, weil die Anwendung der neuen Rentenformel bei einem Teil der Betroffenen – darunter dem Antragsteller – zu einer erheblichen Minderung der monatlichen Altersrente um einen mittleren dreistelligen Betrag führt. Wie ein Vergleich mit den gemeinsam verhandelten Parallelverfahren BVerwG 8 CN 2.21 , 8 CN 3.21 und 8 CN 4.21 zeigt, ergeben sich so Rentenkürzungen um rund 15 bis 25 %.
Die Ausnahmeklausel ist schließlich nicht mit dem Schutz der finanziellen Leistungsfähigkeit oder Stabilität des Versorgungssystems oder der Förderung sozialen Friedens zu rechtfertigen. Zur Verwirklichung dieser legitimen Ziele ist das Verfestigen einer rechtswidrigen Bevorzugung zahlreicher Mitglieder durch die Ausnahmeklausel nicht geeignet. Dies gilt umso mehr, als diesen Mitgliedern unabhängig von künftigen Entwicklungen ein Rechnungszins von 4 % bis zum Renteneintritt garantiert wurde, der gegebenenfalls zulasten der nicht unter die Ausnahmeklausel fallenden Mitglieder und späterer Beitragsjahrgänge finanziert werden müsste. Soweit die Ausnahmeklausel geschlechtsbezogene Diskriminierungen perpetuiert, schließt schon Art. 3 Abs. 2 GG eine gleichheitsrechtliche Rechtfertigung aus. Die Fortschreibung der rechtswidrigen Ungleichbehandlung im Übrigen ist auch, soweit sie gegebenenfalls zu geringeren als den nach der neuen Rentenformel zu ermittelnden Anwartschaften führt, jedenfalls nicht erforderlich, um die finanzielle Leistungsfähigkeit des Systems zu sichern. Vielmehr kann und muss die Antragsgegnerin die Berechnung der Anwartschaften satzungsrechtlich gleichheitskonform und im Einklang mit den vom Oberverwaltungsgericht in den einschlägigen Entscheidungen konkretisierten Anforderungen des § 12 HKG regeln10.
Der Verstoß gegen den Gleichheitssatz führt zur Unwirksamkeit des § 15a ABH 2018. Entgegen der Auffassung der Antragsgegnerin gestattet § 47 Abs. 5 Satz 2 VwGO nicht, § 15a ABH 2018 nur für rechtswidrig zu erklären und eine Weitergeltung bis zum Inkrafttreten der Neuregelung anzuordnen. Eine auf die Ausnahmeklausel des § 15a Abs. 2 ABH 2018 beschränkte, teilweise Nichtigkeit scheidet ebenfalls aus. Sie käme nur in Betracht, wenn die Antragsgegnerin § 15a ABH 2018 im Zweifel auch ohne die Klausel erlassen hätte14. Für einen solchen mutmaßlichen Willen liegen keine objektiven Anhaltspunkte vor.
Bundesverwaltungsgericht, Urteil vom 28. Juni 2022 – 8 CN 1.21
- Nds. OVG, Urteil vom 20.07.2006 – 8 LC 11/05 – GewArch 2007, 33[↩]
- Nds. OVG, Beschlüsse vom 21.10.2009 – 8 LC 13/09; und vom 23.10.2009 – 8 LC 2/09 und 8 LC 12/09[↩]
- Nds. OVG, Urteil vom 12.06.2014 – 8 LC 130/12 – NdsVBl.2015, 16; Beschluss vom 04.07.2016 – 8 LC 89/14[↩]
- Nds. OVG, Urteil vom 25.01.2021 – 8 KN 57/19[↩]
- stRspr, vgl. BVerfG, Urteile vom 17.12.2014 – 1 BvL 21/12, BVerfGE 138, 136 Rn. 121 f.; und vom 26.05.2020 – 1 BvL 5/18, BVerfGE 153, 358 Rn. 94 f.[↩]
- BVerfG, Beschluss vom 07.05.2013 – 2 BvR 909, 1981/06 u. a., BVerfGE 133, 377 Rn. 75 m. w. N.[↩]
- zu diesen Kriterien vgl. BVerfG, Beschluss vom 12.11.1974 – 1 BvR 505/68, BVerfGE 38, 187 <197 f.>[↩]
- BVerwG, Urteile vom 20.09.2001 – 7 C 6.01, Buchholz 316 § 48 VwVfG Nr. 103 Rn. 12; und vom 23.01.2019 – 10 C 5.17, BVerwGE 164, 237 Rn. 32[↩]
- vgl. BVerfG, Urteile vom 28.02.1980 – 1 BvL 17/77 u. a., BVerfGE 53, 257 <290 ff.> und vom 28.04.1999 – 1 BvL 32/95 und 1 BvR 2105/95, BVerfGE 100, 1 <32 f.> Kammerbeschluss vom 13.12.2016 – 1 BvR 713/13 – NJW 2017, 876 Rn. 8[↩]
- vgl. Nds. OVG, Urteil vom 20.07.2006 – 8 LC 11/05 – GewArch 2007, 33; Beschlüsse vom 21.10.2009 – 8 LC 13/09; und vom 23.10.2009 – 8 LC 2/09 und 8 LC 12/09 [↩][↩]
- Nds. OVG, Beschluss vom 21.10.2009 – 8 LC 13/09, Rn. 33[↩]
- Nds. OVG, Beschluss vom 21.10.2009 – 8 LC 13/09 43 f.[↩]
- BVerfG, Urteil vom 21.07.1998 – 1 BvL 22, 34/95, BVerfGE 100, 59 <90> Beschluss vom 07.05.2013 – 2 BvR 909, 1981/06 u. a., BVerfGE 133, 377 Rn. 87 f.[↩]
- BVerwG, Beschluss vom 18.07.1989 – 4 N 3.87, BVerwGE 82, 225 <230>[↩]
Bildnachweis:
- Senior: Steve Buissinne