Für die Erstbemessung der Invalidität kommt es hinsichtlich Grund und Höhe grundsätzlich auf den Zeitpunkt des Ablaufs der in den Allgemeinen Versicherungsbedingungen vereinbarten Invaliditätseintrittsfrist an (hier: 18 Monate). Der Erkenntnisstand im Zeitpunkt der letzten mündlichen Tatsachenverhandlung ist nur maßgebend dafür, ob sich rückschauend bezogen auf den Zeitpunkt des Ablaufs der Invaliditätseintrittsfrist (Ziff. 2.01.1.1 AUB) bessere tatsächliche Einsichten zu den Prognosegrundlagen bezüglich des Eintritts der Invalidität und ihres Grades eröffnen.
Nach ständiger Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs ist im Recht der Unfallversicherung zwischen der Erstbemessung der Invalidität und ihrer Neubemessung zu unterscheiden1. Der durchschnittliche Versicherungsnehmer kann den vereinbarten AUB 2003 zunächst entnehmen, dass der Versicherer gemäß Ziff. 9.1 verpflichtet ist, bei einem geltend gemachten Invaliditätsanspruch innerhalb von drei Monaten zu erklären, ob und in welchem Umfang er den Anspruch anerkennt. Die Fristen beginnen mit dem Eingang der in Ziff. 9.1 genannten Unterlagen. Aus Ziff. 9.4 wird er sodann entnehmen, dass beide Vertragsparteien berechtigt sind, den Grad der Invalidität jährlich, längstens bis zu drei Jahren nach dem Unfall, erneut ärztlich bemessen zu lassen. Eine derartige Neubemessung der Invalidität kommt mithin erst nach vorangegangener Erstbemessung in Betracht2.
Indessen findet die für die Neubemessung der Invalidität geltende Dreijahresfrist auf deren Erstbemessung keine Anwendung. Es kommt für die Erstbemessung auch nicht auf den Zeitpunkt der letzten mündlichen Tatsachenverhandlung oder weitere in der Rechtsprechung und Literatur erwogene Anknüpfungspunkte an. Maßgeblich ist für die Erstbemessung vielmehr auf den Zeitpunkt des Ablaufs der vereinbarten Invaliditätseintrittsfrist hier 18 Monate abzustellen.
Zwar wird aus Ziff. 9.4 AUB 2003 ersichtlich, dass sich nach einer Erstbemessung des Invaliditätsgrades gesundheitliche Veränderungen auf die Leistungspflicht des Versicherers nur dann auswirken sollen, wenn sie spätestens binnen drei Jahren nach dem Unfall eingetreten sind. Das gilt aber nur im Neufestsetzungsverfahren. Ist dieses – wie hier – mangels Erstfestsetzung nicht eröffnet, ist für die nur im Neufestsetzungsverfahren vorgesehene Befristung kein Raum3. Wäre der Versicherer bei jeder medizinischen Unwägbarkeit berechtigt, drei Jahre schon mit der Erstbemessung zuzuwarten, liefe das dem System der AUB mit der Unterscheidung zwischen Erst- und Neubemessung zuwider4. Bei identischen Fristen für Erst- und Neufestsetzung wäre die Differenzierung zwischen beiden unverständlich und das Neufestsetzungsverfahren weitgehend obsolet.
Nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs kommt es auf die Dreijahressfrist an, wenn wie hier nicht innerhalb dieses Zeitraums eine Partei die vorbehaltene Neubemessung verlangt5. Entsprechendes gilt, wenn der Versicherungsnehmer noch vor Ablauf der dreijährigen Neubemessungsfrist klageweise Invaliditätsansprüche geltend macht. In einem solchen Fall gehen die Prozessbeteiligten typischerweise davon aus, dass der Streit insgesamt in dem vor Fristablauf eingeleiteten Prozess ausgetragen werden soll einschließlich etwaiger weiterer Invaliditätsfeststellungen6. Auch ein solcher Fall liegt hier nicht vor.
Entscheidender Zeitpunkt für die Erstbemessung insoweit ist dem Berufungsgericht beizupflichten ist auch nicht der Zeitpunkt der letzten mündlichen Tatsachenverhandlung7.
Tritt ein Dauerschaden im Sinne von Ziff. 2.01.1.1 AUB 2003 binnen 18 Monaten oder einer anderen vereinbarten Frist (gemäß Ziff. 2.01.1.1 der Musterbedingungen AUB 2008/2010 innerhalb eines Jahres) ein, besagt diese Frist zwar nicht, dass bei der nachfolgenden Bemessung des Invaliditätsgrades ausschließlich diejenigen Umstände herangezogen werden dürfen, die innerhalb der Invaliditätseintrittsfrist erkennbar geworden sind. Vielmehr können die Vertragsparteien im Rechtsstreit um die Erstbemessung der Invalidität des Versicherungsnehmers im Grundsatz alle bis zur letzten mündlichen Verhandlung offenbar gewordenen Umstände heranziehen8.
Hieraus folgt aber nicht, dass maßgebender Zeitpunkt für die Erstbemessung der Invalidität und der nach Ziff. 2.01.1.1 AUB 2003 anzustellenden Prognose erst der Zeitpunkt der letzten mündlichen Tatsachenverhandlung ist7. Ansonsten wäre die Erstbemessung der Invalidität auf einen zeitlich von vornherein nicht feststehenden und nicht bestimmbaren Zeitpunkt hinaus geschoben und hinge etwa vom Regulierungsverhalten des Versicherers, der Prozessführung der Parteien sowie gerichtsinternen Abläufen ab. Auf derartige Zufälligkeiten, die in jedem Fall unterschiedlich sein können, kann es für den maßgeblichen Zeitpunkt der Erstfeststellung der Invalidität nicht ankommen9.
Aus demselben Grund kann von Ausnahmefällen abgesehen10 auch nicht der Zeitpunkt der vom Versicherer veranlassten ärztlichen Invaliditätsfeststellung maßgeblich sein11. Ob und wann diese ärztliche Invaliditätsfeststellung erfolgt, hängt vom Zeitpunkt der Meldung des Unfallereignisses durch den Versicherungsnehmer, der Beauftragung eines ärztlichen Gutachters durch den Versicherer und der dann erfolgten ärztlichen Feststellung ab. Diese zeitlichen Zufälligkeiten können nicht maßgebend für die Frage des Bestehens bedingungsgemäßer Invalidität sein. Soweit schließlich teilweise vertreten wird, es sei auf den Zeitpunkt abzustellen, zu dem der weitergehende Abschluss des Heilverfahrens erstmals eine zuverlässige Invaliditätsfeststellung zulasse12, wird der Zeitpunkt für die Erstbemessung der Invalidität mit demjenigen der ärztlichen Feststellung sowie der Fälligkeit der Invaliditätsleistung nach Abschluss der erforderlichen Ermittlungen vermischt.
Entscheidend kommt es für die Erstbemessung der Invalidität bezüglich Grund und Höhe vielmehr auf den Zeitpunkt des Ablaufs der in den Allgemeinen Versicherungsbedingungen vereinbarten Invaliditätseintrittsfrist an, hier gemäß Ziff. 2.01.1.1 AUB 2003 der Frist von 18 Monaten nach dem Unfall13.
Den Ziff. 2.01.1.1 und 9.1, 9.4 AUB 2003 mit den dort genannten Fristen für den Eintritt der Invalidität sowie deren Neubemessung liegt der auch für den durchschnittlichen Versicherungsnehmer erkennbare Zweck zugrunde, die abschließende Bemessung der Invalidität nicht auf unabsehbare Zeit hinauszuschieben. Die Regelung wird den Interessen beider Parteien gerecht, indem zum einen sich nach dem Unfall ergebende Veränderungen des Gesundheitszustandes berücksichtigt werden können, zum anderen die abschließende Festsetzung der Invalidität innerhalb überschaubarer Zeit auf der Grundlage eines feststehenden Bemessungszeitpunkts vorzunehmen ist.
Dem steht nicht entgegen, dass nach der neueren Bundesgerichtshofsrechtsprechung die Vertragsparteien im Rechtsstreit um die Erstbemessung der Invalidität im Grundsatz alle bis zur letzten mündlichen Verhandlung eingetretenen Umstände heranziehen können. Dies bedeutet lediglich, dass auf der Grundlage des Erkenntnisstandes im Zeitpunkt der letzten mündlichen Tatsachenverhandlung rückschauend eine Betrachtung vorzunehmen ist, ob sich bezogen auf den Zeitpunkt des Ablaufs der vereinbarten Invaliditätseintrittsfrist (hier 18 Monate) bessere tatsächliche Einsichten zu den Prognosegrundlagen bezüglich des Eintritts der Invalidität und ihres Grades eröffnen, nicht dagegen, ob spätere, unvorhersehbare gesundheitliche Entwicklungen die Prognoseentscheidung im nachhinein verändern14.
Bundesgerichtshof, Urteil vom 18. November 2015 – IV ZR 124/15
- grundlegend BGH, Beschluss vom 16.01.2008 – IV ZR 271/06, VersR 2008, 527 Rn. 10 f.; ferner BGH, Urteile vom 01.04.2015 – IV ZR 104/13, VersR 2015, 617 Rn. 27; vom 02.12 2009 – IV ZR 181/07, VersR 2010, 243 Rn. 24; BGH, Beschlüsse vom 21.03.2012 – IV ZR 256/10, juris; und vom 22.04.2009 – IV ZR 328/07, VersR 2009, 920 Rn.19[↩]
- BGH, Beschluss vom 16.01.2008 aaO[↩]
- BGH, Urteil vom 01.04.2015 – IV ZR 104/13, VersR 2015, 617 Rn. 27; BGH, Beschluss vom 21.03.2012 – IV ZR 256/10[↩]
- so zu Recht OLG Saarbrücken VersR 2014, 1246, 1248; Marlow/Tschersich, r+s 2011, 453, 455 f.[↩]
- BGH, Urteil vom 02.12 2009 – IV ZR 181/07, VersR 2010, 243 Rn. 24[↩]
- BGH, Urteil vom 04.05.1994 – IV ZR 192/93, VersR 1994, 971 unter 3 c; kritisch Jacob, VersR 2014, 291, 292; ders. AUB Unfallversicherung 2010 Ziff. 2.1 Rn. 70[↩]
- so aber OLG Düsseldorf VersR 2013, 1573, 1574[↩][↩]
- vgl. BGH, Urteile vom 01.04.2015 – IV ZR 104/13, VersR 2015, 617 Rn. 27; vom 22.04.2009 – IV ZR 328/07, VersR 2009, 920 Rn.19[↩]
- vgl. OLG Hamm ZfS 2015, 453, 454; Rixecker, ZfS 2015, 458, 459; Jacob, r+s 2015, 330, 331 f.; ders. jurisPR-VersR 4/2015 Anm. 5; ders. VersR 2014, 291, 293; Kloth, jurisPR-VersR 7/2014 Anm. 3; Kloth/Tschersich, r+s 2015, 321, 324; anders Dörrenbächer, VersR 2015, 619, 620[↩]
- vgl. BGH, Urteil vom 04.05.1994 – IV ZR 192/93, VersR 1994, 971 unter 3 b[↩]
- so aber OLG Hamm ZfS 2015, 453; Kloth, Private Unfallversicherung 2. Aufl. G Rn. 145, 149; Kloth/Tschersich, r+s 2015, 321, 324; ähnlich OLG München VersR 2015, 482, 483, das den Zeitpunkt der Erstbemessung durch den Versicherer für maßgeblich hält[↩]
- Jacob, VersR 2014, 291, 294; ders. Unfallversicherung AUB 2010 Ziff. 2.1 Rn. 64, 66[↩]
- vgl. BGH, Urteil vom 04.05.1994 – IV ZR 192/93, VersR 1994, 971 unter 3 b; OLG Saarbrücken VersR 2014, 1246, 1248; ders. VersR 2009, 976, 978; Grimm, Unfallversicherung 5. Aufl. Ziff. 2 AUB Rn. 10; Jannsen in Schubach/Jannsen, Private Unfallversicherung Ziff. 9 Rn. 16; Rixecker in Römer/Langheid, VVG 4. Aufl. § 188 Rn. 2; Marlow/Tschersich, r+s 2011, 453, 455 f.; dies. r+s 2009, 441, 451; Brockmöller, r+s 2012, 313, 315; anders Völker/Wolf, VersR 2015, 1358, 1360[↩]
- vgl. Rixecker, ZfS 2015, 458, 459 f.; Kloth/Tschersich, r+s 2015, 321, 325[↩]