Nach § 113 Abs. 3 iVm. Abs. 1 BetrVG kann ein Arbeitnehmer vom Unternehmer die Zahlung einer Abfindung verlangen, wenn dieser eine Betriebsänderung durchführt, ohne über sie zuvor einen Interessenausgleich mit dem Betriebsrat versucht zu haben, und der Arbeitnehmer infolge der Maßnahme entlassen wird oder andere wirtschaftliche Nachteile erleidet.
Der Anspruch aus § 113 Abs. 3 BetrVG dient vornehmlich der Sicherung des sich aus § 111 Satz 1 BetrVG ergebenden Verhandlungsanspruchs des Betriebsrats und schützt dabei mittelbar die Interessen der von einer Betriebsänderung betroffenen Arbeitnehmer. Er entsteht, sobald der Unternehmer mit der Durchführung der Betriebsänderung begonnen hat, ohne bis dahin einen Interessenausgleich mit dem Betriebsrat versucht zu haben1.
Der Arbeitgeber muss den Betriebsrat rechtzeitig und umfassend unterrichten und mit ihm mit dem ernsthaften Willen zu einer Verständigung über die geplante Betriebsstillegung beraten. Dazu muss er sich mit den vom Betriebsrat vorgeschlagenen Alternativen zu der geplanten Betriebsänderung befassen und argumentativ auseinandersetzen. Können sich die Betriebsparteien nicht auf einen Interessenausgleich verständigen, ist der Arbeitgeber verpflichtet, die Einigungsstelle anzurufen.
Ein Anspruch auf Nachteilsausgleich besteht nicht, wenn die Betriebsparteien vor Beginn der Betriebsänderung einen Interessenausgleich vereinbaren oder der Verhandlungsanspruch des Betriebsrats in dem Einigungsstellenverfahren erfüllt wird. Letzteres setzt nicht voraus, dass die Einigungsstelle das Scheitern der Interessenausgleichsverhandlungen durch einen förmlichen Beschluss feststellt2.
Nach diesen Grundsätzen steht der Arbeitnehmerin in dem hier vom Bundesarbeitsgericht entschiedenen Fall kein Nachteilsausgleich zu:
Die Arbeitgeberin hat die Verhandlungen mit dem Betriebsrat über einen Interessenausgleich rechtzeitig eingeleitet. Sie hat den Betriebsrat unmittelbar nach den Auftragskündigungen von diesen und der beabsichtigten Betriebsstilllegung unterrichtet. Deren Beginn lag nicht bereits in der Kündigung aller Aufträge durch die GGB. Diese Maßnahme müsste die Arbeitgeberin sich selbst dann nicht aufgrund einer vermeintlichen „Konzernverbundenheit“ zurechnen lassen, wenn man die Vorgaben von Art. 2 Abs. 4 MERL auf § 111 Satz 1 BetrVG übertragen wollte3. Zwar setzt die Pflicht zu Verhandlungen mit der Arbeitnehmervertretung nach dieser Vorschrift schon dann ein, wenn strategische Entscheidungen oder Änderungen der Geschäftstätigkeit erlassen werden, die den Vertragsarbeitgeber zwingen, Massenentlassungen ins Auge zu fassen oder zu planen4. Jedoch ist nicht ersichtlich, dass die Arbeitgeberin aufgrund der Kündigung der Aufträge durch die GGB dazu gezwungen gewesen wäre, eine Betriebsstilllegung – und aus diesem Grund Massenentlassungen – durchzuführen. Deshalb kann dahinstehen, ob Art. 2 Abs. 4 MERL überhaupt Sachverhalte erfasst, in denen sich kein typisches Beherrschungsrisiko verwirklicht, weil ein – möglicherweise – herrschendes Unternehmen nicht in dieser Funktion, sondern in seiner Eigenschaft als Auftraggeberin des Vertragsarbeitgebers agiert.
Die Arbeitgeberin hat sich nach den Auftragskündigungen auf der Grundlage einer ordnungsgemäßen Unterrichtung des Betriebsrats ernsthaft um den Abschluss eines Interessenausgleichs bemüht, bevor sie mit der Umsetzung der Betriebsstilllegung durch Ausspruch der Kündigungen der ersten „Welle“ begonnen hat.
Die Arbeitgeberin hat den Betriebsrat umfassend über die geplante Betriebsänderung unterrichtet. Sie hat ihm mitgeteilt, der Betrieb solle zum 31.03.2015 stillgelegt werden. Die Stilllegungsabsicht beruhte auf dem Entschluss, sich nicht um neue Aufträge zu bewerben. Hierfür war die „konzerninterne Kalkulation“ der gekündigten Aufträge ohne Bedeutung. Ob – wie der Betriebsrat meinte – „konzerninterne Gewinnverteilungen“ bei der Bemessung eines Sozialplanvolumens relevant waren, bedarf keiner Entscheidung. Für die unternehmerische Entscheidung über die beabsichtigte Betriebsstilllegung und ihre Umsetzung ist diese Frage irrelevant.
Die Arbeitgeberin hat nach ergebnislosen Verhandlungen mit dem Betriebsrat die Einigungsstelle angerufen. Diese hat dreimal getagt, bevor die Vertreter der Arbeitgeberin die Verhandlungen über einen Interessenausgleich in der vierten Sitzung am 18.12 2014 für gescheitert erklärt haben. Den von den Vorinstanzen getroffenen Feststellungen, gegen die die Arbeitnehmerin keine verfahrensrechtliche Gegenrüge geführt hat, lässt sich nicht entnehmen, dass der Verhandlungsanspruch des Betriebsrats durch die Erörterungen in der Einigungsstelle nicht erfüllt worden wäre.
Ein Anspruch auf Nachteilsausgleich besteht auch nicht deshalb, weil an den Sitzungen der Einigungsstelle kein Vertreter der Arbeitsverwaltung teilgenommen hat. Nach dem zwischen der Arbeitgeberin und dem Betriebsrat abgeschlossenen gerichtlichen Vergleich sollte zu einer der ersten beiden Sitzungen der Einigungsstelle ein Vertreter der Bundesagentur für Arbeit „eingeladen“ werden. Damit haben die Betriebsparteien keine wechselseitige Verpflichtung begründet, sich zunächst an den Vorstand der Bundesagentur für Arbeit zur Durchführung einer Vermittlung zu wenden (§ 112 Abs. 2 Satz 1 BetrVG), der sich die Arbeitgeberin entzogen hätte. Vielmehr sollten ua. die Verhandlungen über einen Interessenausgleich in der Einigungsstelle fortgesetzt werden. Die Hinzuziehung eines Vertreters der Arbeitsverwaltung zu den Beratungen der Einigungsstelle oblag dabei als verfahrensleitende Maßnahme allein dem Einigungsstellenvorsitzenden (§ 112 Abs. 2 Satz 3 BetrVG).
Die Arbeitgeberin musste vor der zweiten „Kündigungswelle“ keine neuen Interessenausgleichsverhandlungen führen. Die Absicht, es bei der erfolgten Betriebsstilllegung zu belassen, bedeutete nicht die Planung einer neuen Betriebsänderung. Insofern laufen die Verfahren nach § 17 Abs. 2 KSchG und §§ 111 ff. BetrVG auseinander.
Bundesarbeitsgericht, Urteil vom 22. September 2016 – 2 AZR 276/16