Tat- und Verdachtskündigung – wegen eines nicht gebonten Verkaufs

Die Manipulation eines Kassenvorgangs zum Zweck, sich selbst auf Kosten des Arbeitgebers zu bereichern, ist „an sich“ geeignet, einen wichtigen Grund iSd. § 626 Abs. 1 BGB zu bilden. Verschafft sich ein Arbeitnehmer vorsätzlich auf Kosten des Arbeitgebers einen ihm nicht zustehenden Vermögensvorteil, verletzt er erheblich seine Pflicht zur Rücksichtnahme (§ 241 Abs. 2 BGB). Zum Nachteil des Arbeitgebers begangene Eigentums- oder Vermögensdelikte, aber auch nicht strafbare, ähnlich schwerwiegende und unmittelbar gegen das Vermögen des Arbeitgebers gerichtete Handlungen kommen daher typischerweise als Grund für eine außerordentliche Kündigung in Betracht. Das gilt unabhängig von der Höhe eines dem Arbeitgeber durch die Pflichtverletzung entstandenen Schadens. Maßgebend ist vielmehr der mit der Pflichtverletzung verbundene Vertrauensbruch1. So liegt es auch, wenn ein Arbeitnehmer Waren bewusst ohne Bonierung verkauft. Bereits mit der fehlenden Erfassung der vereinnahmten Beträge im Kassensystem wird das Vermögen des Arbeitgebers gefährdet und das Vertrauen in die Redlichkeit des Mitarbeiters erschüttert.

Tat- und Verdachtskündigung – wegen eines nicht gebonten Verkaufs

Auch der dringende Verdacht einer solchen Kassenmanipulation kann einen wichtigen Grund im Sinne von § 626 Abs. 1 BGB bilden2.

Im Kündigungsschutzprozess obliegt dem Arbeitgeber die volle Darlegungs- und Beweislast für das Vorliegen eines Kündigungsgrundes. Für Umstände, die das Verhalten des Arbeitnehmers rechtfertigen oder entschuldigen könnten, ist seine Darlegungslast allerdings abgestuft. Der Arbeitgeber darf sich zunächst darauf beschränken, den objektiven Tatbestand einer Pflichtverletzung vorzutragen. Er muss nicht jeden erdenklichen Rechtfertigungs- oder Entschuldigungsgrund vorbeugend ausschließen. Es ist vielmehr Sache des Arbeitnehmers, für das Eingreifen solcher Gründe – soweit sie sich nicht unmittelbar aufdrängen, zumindest greifbare Anhaltspunkte zu benennen3.

Schon auf der Tatbestandsebene des wichtigen Grundes kann den Arbeitnehmer darüber hinaus eine sekundäre Darlegungslast treffen. Dies kommt insbesondere in Betracht, wenn der Arbeitgeber als primär darlegungsbelastete Partei außerhalb des fraglichen Geschehensablaufs steht, während der Arbeitnehmer aufgrund seiner Sachnähe die wesentlichen Tatsachen kennt. In einer solchen Situation kann der Arbeitnehmer gehalten sein, dem Arbeitgeber durch nähere Angaben weiteren Sachvortrag zu ermöglichen. Kommt er in einer solchen Prozesslage seiner sekundären Darlegungslast nicht nach, gilt das tatsächliche Vorbringen des Arbeitgebers – soweit es nicht völlig „aus der Luft gegriffen“ ist – iSv. § 138 Abs. 3 ZPO als zugestanden. Dabei dürfen an die sekundäre Behauptungslast des Arbeitnehmers keine überzogenen Anforderungen gestellt werden. Sie dient lediglich dazu, es dem kündigenden Arbeitgeber als primär darlegungs- und beweispflichtiger Partei zu ermöglichen, weitere Nachforschungen anzustellen und sodann substantiiert zum Kündigungsgrund vorzutragen und ggf. Beweis anzutreten4.

Im vorliegenden Streitfall hat die Arbeitgeberin behauptet, der Arbeitnehmer habe die positive Differenz zwischen dem Ist- und dem Soll-Bestand der Kasse bis zur Kassenaufnahme in vollem Umfang absichtlich erzeugt, indem er von ihm getätigte Verkäufe bewusst nicht im Kassensystem erfasst habe. Die bisherigen Feststellungen tragen nicht die Annahme, die Arbeitgeberin habe mehr zum von ihr angenommenen Vorgehen des Arbeitnehmers vortragen können, insbesondere ist nicht ersichtlich, dass sie in zumutbarer Weise Vortrag dazu halten könnte, ob der Arbeitnehmer am 2.11.2019 tatsächlich mehr Verkäufe getätigt hat als boniert. Zugleich hat weder die Arbeitgeberin ihre Behauptung völlig „aus der Luft gegriffen“ noch drängen sich unmittelbar andere, „redliche“ Gründe für die Entstehung der Kassendifferenz auf. Zum einen stand die Lade der dem Arbeitnehmer zugewiesenen Kasse für einen längeren Zeitraum offen, ohne dass er dabei einen Verkaufsvorgang abgewickelt hätte. Bei geöffneter Lade ist eine ordnungsgemäße Bonierung von Verkaufsvorgängen nicht möglich. Ein Wirtschaften „an der Kasse vorbei“ wird dadurch erleichtert, weil der Arbeitnehmer gegenüber dem Kunden das Bild eines ordnungsgemäßen Verkaufsvorgangs – ggf. einschließlich der Herausgabe von Wechselgeld – vermitteln kann. Zum anderen müsste bei den nur rund 50 in der Transaktionsliste für den 2.11.2019 erfassten Barverkäufen durch den Arbeitnehmer mit ganz überwiegend geringen Gesamtbeträgen ein insoweit beträchtlicher Kassenüberschuss von fast 30,00 Euro (durchschnittlich etwa 60 Cent) entstanden sein. Letzteres liegt zumindest nicht unmittelbar auf der Hand. Deshalb war der Arbeitnehmer gehalten, im Rahmen einer sekundären Darlegungslast die ihm zumutbaren Angaben zu dem von ihm angenommenen, „redlichen“ Zustandekommen des Kassenüberschusses zu machen. Das hat er vorliegend allenfalls teilweise ausreichend getan.

Der Arbeitnehmer hat es – soweit ersichtlich – selbst nicht für denkbar gehalten, dass er vergessen haben könnte, Verkaufsvorgänge im Kassensystem zu erfassen.

Zu seinen Gunsten kann unterstellt werden, der Arbeitnehmer habe vorgetragen, dass er es gerade auch für den 2.11.2019 für möglich erachte, bei Barverkäufen versehentlich zu wenig Wechselgeld an die Kunden herausgegeben zu haben. Eine weitere Festlegung konnte von ihm insofern nicht verlangt werden, soll es sich doch um unbemerkte (mögliche) Nachlässigkeiten gehandelt haben.

Soweit der Arbeitnehmer darauf hingewiesen hat, dass er am 2.11.2019 die Toilette aufgesucht und Wechselgeld geholt habe, bleibt schon unklar, ob er während dieser Zeiten seine Karte liegen gelassen haben und behaupten möchte, ein Kollege habe sich damit an seiner – des Arbeitnehmers – Kasse angemeldet. Vor allem ist nicht ersichtlich, dass der Arbeitnehmer vortragen will, ein Kollege oder eine Kollegin habe eventuell den Ist- gegenüber dem Soll-Bestand erhöht.

Schließlich hat der Arbeitnehmer nicht vorgetragen, ob er gerade am 2.11.2019 Trinkgeld(er) erhalten haben will und ggf. in welcher ungefähren Höhe. Dessen ungeachtet hätte er darlegen müssen, wie er mit ihm von Kunden neben einer Bar- oder Kartenzahlung gewährten Trinkgeldern verfahren ist. Nach den Anweisungen der Arbeitgeberin sollten diese gerade nicht in der Kasse aufbewahrt werden.

Vor diesem Hintergrund hätte das Landesarbeitsgericht in seine Würdigung nach § 286 Abs. 1 ZPO, ob im Sinn einer „Tat“ oder doch eines dringenden Verdachts davon auszugehen ist, der Arbeitnehmer habe den Kassenüberschuss gezielt aufgebaut, allein die von ihm – dem Arbeitnehmer – schlüssig und substantiiert dargestellte Alternative einbeziehen dürfen, die Differenz sei durch Wechselgeldfehler zulasten von Kunden entstanden.

Für das infolge der Zurückverweisung durch das Bundesarbeitsgericht fortgesetzte Berufungsverfahren wird das Landesarbeitsgericht im Rahmen des Hauptantrags die Wirksamkeit der außerordentlichen Kündigung als Tat- oder doch Verdachtskündigung unter Beachtung der wechselseitigen Vortragslasten der Parteien zu prüfen haben. Dabei wird es nur davon ausgehen können, die Arbeitgeberin habe ihre primäre Darlegungslast nicht erfüllt, wenn sie eine zumutbare Möglichkeit haben sollte nachzuprüfen, ob der Arbeitnehmer während seiner Schicht am 2.11.2019 tatsächlich mehr Waren verkauft hat als im Kassensystem erfasst. Andernfalls wird dem Arbeitnehmer Gelegenheit zu geben sein, sein Vorbringen zur Erfüllung der ihn treffenden sekundären Darlegungslast unter Berücksichtigung der vorstehenden Ausführungen klarzustellen und zu ergänzen. Sollte sich die Behauptung der Arbeitgeberin, der Arbeitnehmer habe den Kassenüberschuss bewusst aufgebaut, danach nicht schon aufgrund unzureichenden Vorbringens des Arbeitnehmers gemäß § 138 Abs. 3 ZPO als unstreitig erweisen, wird das Landesarbeitsgericht auf der Grundlage und im Rahmen des schlüssigen und substantiierten Parteivorbringens nach § 286 Abs. 1 ZPO zu würdigen haben, ob es im Sinn einer „Tat“ oder wenigstens eines dringenden Verdachts davon ausgeht, der Arbeitnehmer habe die Kassendifferenz – wenigstens teilweise – absichtlich erzeugt. Dabei könnte zum einen bedeutsam sein, dass er kein Interesse daran hatte, ihm zugedachte Trinkgelder an die Arbeitgeberin weiterzureichen. Zum anderen wäre zu beurteilen, wie wahrscheinlich es ist, dass der Arbeitnehmer durch die – jeweils vom Kunden entweder nicht bemerkte oder doch nicht beanstandete – Herausgabe von zu wenig Wechselgeld im Zug der lediglich ca. 50 und ganz überwiegend „kleineren“ Barverkäufe am 2.11.2019 insgesamt einen Kassenüberschuss von nahezu 30, 00 Euro erzeugt hat. Darüber hinaus könnten etwaige widersprüchliche Erklärungen des Arbeitnehmers im Rahmen seiner Anhörungen ebenso in die Würdigung einzubeziehen sein wie der Umstand, dass er – soweit ersichtlich – erstmals in zweiter Instanz mögliche Wechselgeldfehler und den Erhalt von Trinkgeldern in den Raum gestellt hat. Schließlich könnte es, ohne dass es darauf noch ankommen müsste, für die Überzeugungsbildung eine Rolle spielen, ob der Arbeitnehmer – was ggf. von der Arbeitgeberin darzulegen und zu beweisen wäre – vor dem 2.11.2019 nie auch nur geringfügige Kassenüberschüsse „abgeliefert“ hat. Dies könnte indiziell dahin deuten, dass er das von der Arbeitgeberin beschriebene Wirtschaften „an der Kasse vorbei“ unter passgenauer Entnahme der unredlich vereinnahmten Beträge (erst) am Schichtende nach Ziehen eines Auszugs aus dem Kassenjournal betrieb.

Sollte das Landesarbeitsgericht indes annehmen, es bestehe „lediglich“ der dringende Verdacht, dass der Arbeitnehmer den bei der Kontrolle festgestellten Kassenüberschuss, zumindest teilweise – bewusst generiert habe, wird es zu prüfen haben, ob die Arbeitgeberin vor Ausspruch der Kündigung alle zumutbaren Mittel zur Aufklärung des Sachverhalts ergriffen hat5. Dazu hätte es – sofern dies seinerzeit (noch) in zumutbarer Weise möglich gewesen wäre – gehört, eine Abweichung des Ist-Bestands an Waren vom Soll-Bestand zu ermitteln. Demgegenüber musste die Arbeitgeberin – wovon das Landesarbeitsgericht offenbar ausgegangen ist – den Arbeitnehmer schon deshalb nicht bis zum Schichtende weiterarbeiten lassen, um ihn ggf. bei der Entnahme von Gelder zu ertappen, weil die Pflichtverletzung, derer der Arbeitnehmer ggf. dringend verdächtig wäre, in der bewussten Erzeugung eines Kassenüberschusses lag. Hinsichtlich der vor einer Verdachtskündigung zwingend gebotenen Anhörung gilt, dass diese sich nur auf Tatsachen erstreckt, die der eigenen Wahrnehmung des Arbeitnehmers unterlagen6. Deshalb musste die Arbeitgeberin den Arbeitnehmer nicht mit ihren Erfahrungswerten aus anderen Arbeitsverhältnissen konfrontieren. Auch dies hat das Landesarbeitsgericht verkannt.

Falls das Landesarbeitsgericht einen wichtigen Grund iSv. § 626 Abs. 1 BGB – sei es im Sinn einer Tat, sei es im Sinn einer Verdachtskündigung – annehmen sollte, wird es zu prüfen haben, ob die Arbeitgeberin die Kündigungserklärungsfrist des § 626 Abs. 2 BGB gewahrt hat. Hingegen wird es auf die – naheliegende – Ordnungsgemäßheit der Betriebsratsanhörung nach § 102 BetrVG nur ankommen, wenn der Arbeitnehmer diese Rüge entweder bereits in erster Instanz angebracht hat oder er sie erstmals im Berufungsverfahren mit Erfolgsaussicht erheben konnte, weil das Arbeitsgericht ihm keinen Hinweis nach § 6 KSchG erteilt hatte7.

Sollte das Landesarbeitsgericht dem Hauptantrag stattgeben, fiele der Hilfsantrag gegen die ordentliche Kündigung zur Entscheidung an. Insofern wird ggf. zu beachten sein, dass die Erklärungsfrist des § 626 Abs. 2 BGB für eine ordentliche Tat, aber auch Verdachtskündigung nicht gilt8. Sollte der Arbeitnehmer die diesbezügliche Rüge rechtzeitig erhoben haben, wäre ggf. zu prüfen, ob das Verfahren zur Anhörung des Betriebsrats nach § 102 BetrVG bei Zugang der Kündigung abgeschlossen war9. Daneben wären ggf. die betrieblichen Voraussetzungen für das Eingreifen des allgemeinen Kündigungsschutzes (§ 23 Abs. 1 KSchG) vom Landesarbeitsgericht festzustellen, woran es bislang fehlt.

Bundesarbeitsgericht, Urteil vom 27. September 2022 – 2 AZR 508/21

  1. BAG 22.09.2016 – 2 AZR 848/15, Rn. 16, BAGE 156, 370[]
  2. vgl. BAG 6.07.2000 – 2 AZR 454/99, zu II 2 b dd der Gründe[]
  3. BAG 16.07.2015 – 2 AZR 85/15, Rn. 40[]
  4. vgl. BAG 16.07.2015 – 2 AZR 85/15, Rn. 41; 18.06.2015 – 2 AZR 256/14, Rn. 28[]
  5. vgl. BAG 25.04.2018 – 2 AZR 611/17, Rn. 31[]
  6. vgl. BAG 25.04.2018 – 2 AZR 611/17, Rn. 38[]
  7. vgl. BAG 18.01.2012 – 6 AZR 407/10, Rn. 12 ff., BAGE 140, 261[]
  8. zu Letzterer vgl. BAG 31.01.2019 – 2 AZR 426/18, Rn. 31, BAGE 165, 255[]
  9. zur Fristberechnung und zu den Anforderungen an eine abschließende Stellungnahme des Gremiums vgl. BAG 25.05.2016 – 2 AZR 345/15, Rn. 24 ff., BAGE 155, 181[]

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