Gewährt ein Tarifvertrag ein Urlaubsgeld „je Urlaubstag“ oder „für jeden Urlaubstag“, haben schwerbehinderte Arbeitnehmer einen Anspruch auf dieses zusätzliche Urlaubsgeld auch für Urlaubstage, die ihnen gemäß § 208 Abs. 1 Satz 1 SGB IX als Zusatzurlaub zustehen.
Dies ergibt für das Bundesarbeitsgericht die Auslegung dieser Tarifvorschriften1.
Urlaubstag ist nach dem allgemeinen juristischen Sprachgebrauch jeder Tag, an dem der Arbeitgeber den Arbeitnehmer von der vertraglichen Arbeitspflicht befreit, ohne dass sein Anspruch auf Zahlung des Arbeitsentgelts berührt wird2.
Dabei spielt es keine Rolle, ob die Befreiung ihren Grund in den Vorschriften des BUrlG, den tariflichen Bestimmungen oder der für schwerbehinderte Menschen geltenden Regelung in § 208 Abs. 1 Satz 1 SGB IX findet. Vielmehr gilt nach der ständigen Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts der Grundsatz, dass der gesetzliche Anspruch auf Mindesturlaub und der Anspruch auf Zusatzurlaub nach § 208 Abs. 1 Satz 1 SGB IX im Regelfall gleich zu behandeln sind (sog. urlaubsrechtliche Akzessorietät)3.
Nähme man die Urlaubstage, die ein schwerbehinderter Arbeitnehmer aufgrund der Regelung des § 208 Abs. 1 Satz 1 SGB IX beanspruchen kann, aus dem Tatbestand des tarifvertraglichen Urlaubsgeldanspruchs aus, verkehrte man den Sinn des Wortes „jeden“ in sein Gegenteil. Denn in diesem Fall schuldete der Arbeitgeber das zusätzliche Urlaubsgeld nicht für „jeden“, sondern nur für bestimmte, in der Norm nicht gesondert genannte Urlaubstage. Hätten die Tarifvertragsparteien nach der Rechtsgrundlage des Urlaubsanspruchs unterscheiden wollen, spricht alles dafür, dass sie nicht auf den Oberbegriff des „Urlaubstags“ zurückgegriffen, sondern eine nach dem Rechtsgrund des Urlaubs differenzierende Regelung getroffen hätten. Dies ist nicht geschehen.
Bedienen sich die Tarifvertragsparteien eines Rechtsbegriffs, der im juristischen Sprachgebrauch eine bestimmte Bedeutung hat, ist dieser Begriff in seiner allgemeinen juristischen Bedeutung auszulegen, sofern sich nicht aus dem Tarifvertrag etwas anderes ergibt4.
Die Berücksichtigung der Urlaubstage, auf die ein schwerbehinderter Arbeitnehmer gemäß § 208 Abs. 1 Satz 1 SGB IX Anspruch hat, entspricht auch dem Sinn und Zweck des zusätzlichen Urlaubsgelds. Unabhängig von seiner rechtlichen Einordnung als Urlaubsgeld im engeren Sinne5 oder als „arbeitsleistungsbezogene Jahressonderleistung“6 haben die Tarifvertragsparteien Arbeitnehmern einen Anspruch auf eine Geldleistung eingeräumt, deren Höhe sich an der Anzahl der Urlaubstage orientiert. Durch die Festlegung eines Festbetrags, der mit der Anzahl der Urlaubstage zu multiplizieren ist, haben sie die Höhe des dem einzelnen Arbeitnehmer zustehenden zusätzlichen Urlaubsgelds unmittelbar proportional zum Umfang des Urlaubsanspruchs ausgestaltet. Dieses Äquivalenzverhältnis wäre durchbrochen, stellte man in das zu bildende Produkt lediglich die tariflichen, nicht aber die auf der Vorschrift des § 208 Abs. 1 Satz 1 SGB IX beruhenden Urlaubstage ein.
Soweit das Landesarbeitsgericht Hamm für die Auslegung eines solchen Tarifvertrages maßgeblich auf die Tarifgeschichte abstellt7, rechtfertigt dies nicht, abweichend zu entscheiden, auch wenn die die Hauptverwaltung der am Abschluss des Tarifvertrags beteiligten Gewerkschaft mitteilt, die Anspruchsvoraussetzungen des zusätzlichen Urlaubsgelds seien „nicht ausdrücklich Thema bei den Tarifverhandlungen“ gewesen. Die Entstehungsgeschichte des Tarifvertrags ist jedoch nur in den Fällen ergänzend heranzuziehen, in denen die Auslegung nach Wortlaut, Sinn und Zweck sowie Gesamtzusammenhang der Tarifvorschrift zweifelsfreie Auslegungsergebnisse nicht zulässt8. Das ist hier nicht der Fall. Der im Wortlaut und im tariflichen Gesamtzusammenhang zum Ausdruck kommende Wille der Tarifvertragsparteien lässt eine zweifelsfreie Auslegung zu.
Bundesarbeitsgericht, Urteil vom 10. März 2020 – 9 AZR 109/19
- vgl. zu den für Tarifverträge maßgeblichen Auslegungsgrundsätzen BAG 19. Juni 2018 – 9 AZR 564/17 – Rn. 17[↩]
- vgl. BAG 15. März 2011 – 9 AZR 799/09 – Rn. 20, BAGE 137, 221[↩]
- vgl. BAG 23.03.2010 – 9 AZR 128/09, Rn. 66, BAGE 134, 1[↩]
- BAG 18. Juli 2017 – 9 AZR 850/16 – Rn. 13[↩]
- vgl. hierzu BAG 24.06.2003 – 9 AZR 563/02, Rn. 29, BAGE 106, 368[↩]
- vgl. BAG 21.01.2014 – 9 AZR 134/12, Rn. 17[↩]
- LAG Hamm 6.03.2019 – 3 Sa 1184/18[↩]
- BAG 19.12.2006 – 9 AZR 356/06, Rn. 32; zu grundsätzlichen Bedenken hinsichtlich der Berücksichtigung der Entstehungsgeschichte bei der Auslegung eines Tarifvertrags BAG 10.12.2014 – 4 AZR 503/12, Rn. 22, BAGE 150, 184[↩]
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