Der Betrieb eines Stahlwerks muss ausgesetzt werden, wenn er schwere und erhebliche Gefahren für die Umwelt und die menschliche Gesundheit mit sich bringt. Dies zu beurteilen ist Sache der nationalen Gerichte.
Der Begriff „Umweltverschmutzung“ im Sinne der Richtlinie über Industrieemissionen umfasst Schädigungen sowohl der Umwelt als auch der menschlichen Gesundheit. Die vorherige Prüfung der Auswirkungen einer Anlage wie des Stahlwerks Ilva in Süditalien muss daher Bestandteil der in dieser Richtlinie vorgesehenen Verfahren zur Erteilung und Überprüfung der Betriebsgenehmigung sein. Im Überprüfungsverfahren sind die mit der Tätigkeit der Anlage verbundenen Schadstoffe zu berücksichtigen, selbst wenn sie im ursprünglichen Genehmigungsverfahren nicht bewertet wurden. Bei schweren und erheblichen Gefahren für die Unversehrtheit der Umwelt und der menschlichen Gesundheit muss der Betrieb der Anlage ausgesetzt werden
Dies entschied jetzt der Gerichtshof der Europäischen Union auf ein Vorabentscheidungsersuchen, der das Stahlwerk Ilva im süditalienischen Tarent betraf. Dieses Stahlwerk wurde im Jahr 1965 in Betrieb genommen. Mit etwa 11.000 Arbeitnehmern und einer Fläche von fast 1.500 ha ist es eines der größten Stahlwerke Europas. Gutachten über Gesundheitsschäden, die in den Jahren 2017, 2018 und 2021 erstellt wurden, belegen einen Kausalzusammenhang zwischen der Verschlechterung des Gesundheitszustands der Einwohner der Region Tarent und den Emissionen des Werks Ilva, insbesondere in Bezug auf PM10,Feinstaubpartikel und Schwefeldioxid (SO2) industriellen Ursprungs. Auch andere mit der Tätigkeit des Stahlwerks im Zusammenhang stehende Schadstoffe wie Kupfer, Quecksilber und Naphthalin sowie PM2,5– und PM10-Feinstaubpartikel wurden nachgewiesen. In einem Bericht des Menschenrechtsrats der Vereinten Nationen vom Januar 2002 wird der Ballungsraum Tarent zu den „Opferzonen“ gezählt. Dies sind Zonen, die durch extreme Verschmutzung und Kontamination durch toxische Stoffe gekennzeichnet sind und in denen die schutzbedürftigen und marginalisierten Bewohner viel mehr als andere den Folgen von Umweltverschmutzung und gefährlichen Stoffen für die Gesundheit, die Menschenrechte und die Umwelt ausgesetzt sind.
Im Jahr 2019 stellte der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte fest, dass das Stahlwerk erhebliche nachteilige Auswirkungen auf die Umwelt und die Gesundheit der Anwohner habe. Maßnahmen, um seine Auswirkungen zu verringern, sind seit 2012 vorgesehen, doch die Fristen für ihre Umsetzung wurden immer wieder verlängert. Zahlreiche Einwohner der Region klagen daher vor einem Mailänder Gericht gegen den weiteren Betrieb des Stahlwerks. Sie machen geltend, dass dessen Emissionen ihre Gesundheit schädigten und dass die Anlage nicht mit den Vorschriften der „Richtlinie 2010/75/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 24. November 2010 über Industrieemissionen (integrierte Vermeidung und Verminderung der Umweltverschmutzung“ (Richtlinie über Industrieemissionen) im Einklang stehe.
Das Mailänder Gericht richtete ein Vorabentscheidungsersuchen an den Gerichtshof der Europäischen Union zu der Rechtsfrage, ob die italienischen Rechtsvorschriften und die besonderen Ausnahmeregeln, die für das Stahlwerk Ilva gelten, um seinen Fortbestand zu gewährleisten, der Richtlinie über Industrieemissionen zuwiderlaufen.
Mit einem solchen Vorabentscheidungsersuchen haben die Gerichte der Mitgliedstaaten die Möglichkeit (und ggfs. auch die Pflicht), dem Gerichtshof der Europäischen Unin im Rahmen eines Rechtsstreits, über den sie zu entscheiden haben, Fragen betreffend die Auslegung des Unionsrechts oder die Gültigkeit einer Handlung der Europäischen Union vorzulegen. Der Unionsgerichtshof entscheidet dabei nicht den beim nationalen Gericht anhängigen Rechtsstreit, sondern nur über die vom nationalen Gericht vorgelegte Rechtsfrage. Der Rechtsstreit ist sodann ist unter Zugrundelegung der Entscheidung des Unionsgerichtshofs vom nationalen Gericht zu entscheiden. Die Entscheidung des Unionsgerichtshofs bindet in gleicher Weise andere nationale Gerichte, wenn diese über vergleichbare Fragen zu befinden haben.
In seinem Urteil hebt der Unionsgerichtshof zunächst den engen Zusammenhang zwischen dem Schutz der Umwelt und dem Schutz der menschlichen Gesundheit hervor, bei denen es sich um Hauptziele des Unionsrechts handelt, die durch die Charta der Grundrechte der Europäischen Union garantiert werden. Er stellt fest, dass die Richtlinie zur Erreichung dieser Ziele und zur Wahrung des Rechts, in einer für die Gesundheit und das Wohlbefinden des Einzelnen angemessenen Umwelt zu leben, beiträgt.
Zum Vorbringen der italienischen Regierung, die Richtlinie nehme nirgends auf eine Bewertung von Gesundheitsschäden Bezug, führt der Unionsgerichtshof aus, dass der Begriff „Umweltverschmutzung“ im Sinne der Richtlinie Schäden sowohl der Umwelt als auch der menschlichen Gesundheit umfasst. Daher muss die vorherige Prüfung der Auswirkungen, die die Tätigkeit einer Anlage wie des Stahlwerks Ilva auf diese beiden Aspekte hat, Bestandteil der Verfahren zur Erteilung und Überprüfung der Betriebsgenehmigung sein. Nach den Angaben des Mailänder Gerichts ist diese Vorbedingung aber in Bezug auf die Gesundheitsschäden nicht erfüllt worden. Der Betreiber muss überdies während des gesamten Betriebszeitraums seiner Anlage eine fortlaufende Bewertung dieser Auswirkungen vornehmen.
Wie das Mailänder Gericht mitgeteilt hat, ermöglichten es die Sonderregeln für das Stahlwerk Ilva zudem, ihm eine Umweltgenehmigung zu erteilen und diese zu überprüfen, ohne bestimmte Schadstoffe oder deren schädliche Auswirkungen auf die Bevölkerung in seiner Umgebung zu berücksichtigen. Der Unionsgerichtshof stellt jedoch fest, dass der Betreiber einer Anlage in seinem ursprünglichen Antrag auf Erteilung einer Betriebsgenehmigung Informationen über Art, Menge und potenzielle nachteilige Auswirkungen der Emissionen, die von seiner Anlage ausgehen können, liefern muss. Nur Schadstoffe, von denen anzunehmen ist, dass ihre Auswirkungen auf die menschliche Gesundheit und die Umwelt zu vernachlässigen sind, können von der Einhaltung der in der Betriebsgenehmigung festgelegten Emissionsgrenzwerte ausgenommen werden.
Der Gerichtshof der Europäischen Union kommt daher zu dem Ergebnis, dass sich das Überprüfungsverfahren entgegen dem Vorbringen von Ilva und der italienischen Regierung nicht darauf beschränken darf, Grenzwerte allein für Schadstoffe festzulegen, deren Emission vorhersehbar war. Auch die von der betreffenden Anlage während ihres Betriebs tatsächlich erzeugten Emissionen anderer Schadstoffe sind zu berücksichtigen.
Bei Nichteinhaltung der Genehmigungsauflagen für die Anlage muss der Betreiber unverzüglich die erforderlichen Maßnahmen ergreifen, um sicherzustellen, dass die Einhaltung der Auflagen durch seine Anlage so schnell wie möglich wiederhergestellt wird.
m Fall von schweren und erheblichen Gefahren für die Unversehrtheit der Umwelt und der menschlichen Gesundheit darf die Frist für die Umsetzung der in der Betriebsgenehmigung vorgesehenen Schutzmaßnahmen nicht wiederholt verlängert werden; der Betrieb der Anlage ist dann auszusetzen.
Gerichtshof der Europäischen Union, Urteil vom 25. Juni 2024 – C-626/22
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- Stahlwerk in Taranto: Mafe de Baggis | CC BY-SA 2.0 Generic