Die Mitwirkungspflichtverletzung des Kindergeldempfängers – und die Rückforderung des Kindergelds

Ein Erlass aus Billigkeitsgründen scheidet regelmäßig aus, wenn der Kindergeldberechtigte seinen Mitwirkungspflichten gemäß § 68 Abs. 1 Satz 1 EStG nicht nachgekommen ist und kein überwiegendes behördliches Mitverschulden der Familienkasse vorliegt1. Die fehlende Weitergabe einer kindergeldrelevanten Information an die Familienkasse seitens der für den Familienzuschlag zuständigen Bezügestelle einer anderen Behörde führt weder zu einer Wissenszurechnung noch zu einem Verschulden der Familienkasse, das zu einem Erlass der Kindergeld-Rückforderung im Billigkeitswege führen könnte. 

Die Mitwirkungspflichtverletzung des Kindergeldempfängers – und die Rückforderung des Kindergelds

Gemäß § 227 AO können die Finanzbehörden, zu denen auch die Familienkassen gehören (§ 6 Abs. 2 Nr. 6 AO), Ansprüche aus dem Steuerschuldverhältnis ganz oder zum Teil erlassen, wenn deren Einziehung nach Lage des einzelnen Falls unbillig wäre; unter den gleichen Voraussetzungen können bereits entrichtete Beträge erstattet oder angerechnet werden. Die Entscheidung über den Erlass, die Erstattung oder die Anrechnung im Billigkeitswege ist eine Ermessensentscheidung2.

Nach § 102 Satz 1 FGO kann die Ermessensentscheidung der Finanzbehörde im finanzgerichtlichen Verfahren nur daraufhin überprüft werden, ob die Grenzen der Ermessensausübung eingehalten worden sind3. Dabei hat das Gericht grundsätzlich auf die Sach- und Rechtslage im Zeitpunkt der Einspruchsentscheidung als der letzten Verwaltungsentscheidung abzustellen4. Die Finanzbehörde kann ihre Ermessenserwägungen gemäß § 102 Satz 2 FGO bis zum Abschluss der Tatsacheninstanz eines finanzgerichtlichen Verfahrens ergänzen.

Eine Unbilligkeit aus sachlichen Gründen, die vorliegend allein in Betracht kommt, ist anzunehmen, wenn die Geltendmachung eines Anspruchs aus dem Steuerschuldverhältnis (§ 37 AO) im Einzelfall zwar dem Wortlaut einer Vorschrift entspricht, nach dem Zweck des zugrundeliegenden Gesetzes aber nicht (mehr) zu rechtfertigen ist oder dessen Wertungen zuwiderläuft (sog. Gesetzesüberhang)5.

Wie der Große Senat des Bundesfinanzhofs in seinem Beschluss vom 28.11.20166 zum sogenannten Sanierungserlass betont hat, handelt es sich bei dem Begriff der Unbilligkeit im Sinne von § 227 AO um einen gerichtlich überprüfbaren Rechtsbegriff und um die gesetzliche Voraussetzung einer behördlichen Ermessensentscheidung7.

Ein Erlass aus Billigkeitsgründen scheidet regelmäßig aus, wenn der Kindergeldberechtigte seinen Mitwirkungspflichten (§ 68 Abs. 1 EStG) nicht nachgekommen ist und dies die maßgebliche Ursache für die Überzahlung darstellt8; dies gilt entsprechend für die Erstattung oder Anrechnung bereits entrichteter Beträge. Nach § 68 Abs. 1 Satz 1 EStG hat eine Person, die Kindergeld beantragt oder erhält, Änderungen in den Verhältnissen, die für die Leistung erheblich sind oder über die im Zusammenhang mit der Leistung Erklärungen abgegeben worden sind, unverzüglich der zuständigen Familienkasse mitzuteilen. Diese besondere Mitwirkungspflicht soll gewährleisten, dass der Familienkasse alle notwendigen Informationen zur Verfügung stehen, um rechtzeitig die Rechtmäßigkeit der Auszahlung von Kindergeld beurteilen zu können und fehlerhafte Auszahlungen und damit zusammenhängende spätere Rückforderungen zu vermeiden. Sie führt auch dazu, dass sich die Familienkasse grundsätzlich darauf verlassen darf, dass ihr jeder Kindergeldberechtigte unaufgefordert die seine persönliche Sphäre betreffenden Änderungen mitteilt. Soweit die Familienkasse Kindergeld zu Unrecht auszahlt, weil der Kindergeldempfänger es unterlassen hat, sie über tatsächliche, für den Kindergeldanspruch relevante Verhältnisse zu informieren, und soweit sie hiervon auch anderweitig keine Kenntnis erlangt hat, kann ihr kein Fehlverhalten vorgeworfen werden. In diesem Fall liegt auch kein Gesetzesüberhang vor, der einen Billigkeitserlass gebieten könnte9.

Zwar kann ein Verhalten der Behörde unter besonderen Umständen einen sachlichen Billigkeitsgrund darstellen. Dies setzt jedoch regelmäßig voraus, dass die Rückforderung nicht auf solche Umstände zurückzuführen ist, die der Rückzahlungsschuldner zu vertreten hat. Ein Anspruch auf einen Billigkeitserlass kann demgemäß in Betracht kommen, wenn der Kindergeldberechtigte seinen Mitwirkungspflichten nachgekommen ist und der Grund für die Rückforderung durch ein überwiegendes Verschulden oder eine fehlerhafte Arbeitsweise der Behörde entstanden ist10; dies gilt entsprechend für die Erstattung oder Anrechnung bereits entrichteter Beträge.

Bundesfinanzhof, Urteil vom 8. August 2024 – III R 24/22

  1. Bestätigung der BFH-Rechtsprechung, z.B. BFH, Urteil vom 27.05.2020 – III R 45/19, BFH/NV 2020, 1283[]
  2. vgl. dazu grundlegend GmS-OBG, Beschluss vom 19.10.1971 – GmS-OGB 3/70, BFHE 105, 101, BStBl II 1972, 603; und aus der ständigen BFH-Rechtsprechung zu § 227 AO: BFH, Urteile vom 13.09.2018 – III R 19/17, BFHE 262, 483, BStBl II 2019, 187, Rz 13; vom 17.07.2019 – III R 64/18, BFH/NV 2020, 7, Rz 11; und vom 19.05.2022 – III R 16/20, BFH/NV 2022, 1160, Rz 14[]
  3. vgl. BFH, Urteile vom 13.09.2018 – III R 48/17, BFHE 262, 488, BStBl II 2019, 189, Rz 12; vom 27.05.2020 – III R 45/19, BFH/NV 2020, 1283, Rz 18; und vom 19.05.2022 – III R 16/20, BFH/NV 2022, 1160, Rz 14[]
  4. BFH, Urteil vom 17.07.2019 – III R 64/18, BFH/NV 2020, 7, Rz 19; zur Maßgeblichkeit der Sach- und Rechtslage im Entscheidungszeitpunkt der Tatsacheninstanz bei Verpflichtungsklagen auf einen gebundenen Verwaltungsakt vgl. BFH, Urteile vom 14.03.2012 – XI R 33/09, BFHE 236, 283, BStBl II 2012, 477, Rz 26; und vom 11.10.2017 – IX R 2/17, BFH/NV 2018, 322, Rz 20[]
  5. vgl. BFH, Urteile vom 13.09.2018 – III R 19/17, BFHE 262, 483, BStBl II 2019, 187, Rz 14; vom 27.05.2020 – III R 45/19, BFH/NV 2020, 1283, Rz 19; vom 19.05.2022 – III R 16/20, BFH/NV 2022, 1160, Rz 15[]
  6. BFH, Beschluss vom 28.11.2016 – GrS 1/15, BFHE 255, 482, BStBl II 2017, 393[]
  7. ebenso BFH, Urteil vom 27.02.2019 – VII R 34/17, BFHE 264, 563, Rz 17[]
  8. BFH, Urteil vom 27.05.2020 – III R 45/19, BFH/NV 2020, 1283, Rz 26[]
  9. vgl. BFH, Urteile vom 13.09.2018 – III R 19/17, BFHE 262, 483, BStBl II 2019, 187, Rz 19; und vom 27.05.2020 – III R 45/19, BFH/NV 2020, 1283, Rz 24[]
  10. vgl. BFH, Urteile vom 13.09.2018 – III R 19/17, BFHE 262, 483, BStBl II 2019, 187, Rz 21 f.; vom 13.09.2018 – III R 48/17, BFHE 262, 488, BStBl II 2019, 189, Rz 16; vom 08.11.2018 – III R 31/17, BFH/NV 2019, 557, Rz 21 f.; vom 27.05.2020 – III R 45/19, BFH/NV 2020, 1283, Rz 25[]

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