Die örtlich zuständigen Familienkassen sind in Kindergeldsachen nach dem Grundsatz der Gesamtzuständigkeit auch für das Erhebungsverfahren zuständig; die Konzentration der Aufgaben des Erhebungsverfahrens (hier: Stundung einer Kindergeldrückforderung) beim Inkasso-Service Recklinghausen und der Familienkasse Nordrhein-Westfalen Nord war rechtswidrig1.
Dies entschied jetzt der Bundesfinanzhof in einem Rechtsstreit um die Rechtmäßigkeit der Ablehnung einer Stundung. Das erstinstanzlich mit hiermit befasste Finanzgericht Düsseldorf hob den Ablehnungsbescheid vom 10.01.2019 und die dazu ergangene Einspruchsentscheidung vom 09.09.2019 auf, weil der Ablehnungsbescheid und die Einspruchsentscheidung von unzuständigen Behörden erlassen worden seien. Im Übrigen -hinsichtlich der beantragten Verpflichtung zur Stundung- wies es die Klage ab2. Die hiergegen gerichtete Revision der Familienkasse hat der Bundesfinanzhof als unbegründet zurückgewiesen; das Finanzgericht Düsseldorf sei in revisionsrechtlich nicht zu beanstandender Weise davon ausgegangen, dass der Bescheid über die Ablehnung der Stundung und die hierzu ergangene Einspruchsentscheidung von unzuständigen Behörden erlassen wurden:
Die Klage richtet sich infolge rechtschutzgewährender Auslegung gegen die Agentur für Arbeit Recklinghausen Inkasso-Service Familienkasse. Da diese die beantragte Stundung abgelehnt hat, ist die Klage gemäß § 63 Abs. 1 FGO gegen sie zu richten, weil sie den ursprünglichen Verwaltungsakt erlassen hat. Daher ist sie und nicht die Familienkasse NRW Nord als Rechtsmittelbehörde beteiligt3, weil kein Fall des § 63 Abs. 2 Nr. 1 FGO vorliegt. Das Finanzgericht hat den die Stundung ablehnenden Bescheid und die Einspruchsentscheidung zu Recht aufgehoben, weil diese rechtswidrig sind und die Klägerin in ihren Rechten verletzen (§ 101 Satz 1 FGO). Beide Bescheide wurden von einer sachlich unzuständigen Behörde erlassen:
Nach § 222 Satz 1 AO können die Finanzbehörden Ansprüche aus dem Steuerschuldverhältnis ganz oder teilweise stunden, wenn die Einziehung bei Fälligkeit eine erhebliche Härte für den Schuldner bedeuten würde und der Anspruch durch die Stundung nicht gefährdet erscheint. Die Zuständigkeit für die Entscheidung über die Stundung bestimmt sich nach der Verwaltungshoheit, welche sowohl die im Festsetzungsverfahren als auch die im Erhebungsverfahren zu treffenden Entscheidungen umfasst4.
Der Bundesfinanzhof hat bereits mehrfach entschieden, dass die Konzentration der Aufgaben des Erhebungsverfahrens -insbesondere der Erlass und die Stundung von Kindergeldrückforderungen- bei der Agentur für Arbeit Recklinghausen Inkasso-Service Familienkasse und der Familienkasse NRW Nord rechtswidrig ist5.
In den vorgenannten Urteilen, auf die hinsichtlich der Einzelheiten verwiesen wird, hat der Bundesfinanzhof dargelegt, dass für die örtliche Zuständigkeit (§ 17 AO) der Grundsatz der Gesamtzuständigkeit gilt. Die Zuständigkeit der örtlich zuständigen Familienkasse umfasst daher grundsätzlich alle Verwaltungstätigkeiten der Finanzbehörde, die sich aus dem gesamten Besteuerungsverfahren ergeben (Festsetzung, Rechtsbehelfsverfahren, Erhebung und Vollstreckung); eine abweichende Regelung über die örtliche Zuständigkeit setzt mithin eine Übertragung der Gesamtzuständigkeit für bestimmte Bezirke oder Gruppen von Berechtigten voraus.
Der Bundesfinanzhof hat weiter entschieden, dass § 5 Abs. 1 Satz 1 Nr. 11 Satz 4 FVG dem Vorstand der Bundesagentur für Arbeit nur die Befugnis einräumt, innerhalb seines Zuständigkeitsbereichs die Entscheidung über den Anspruch auf Kindergeld für bestimmte Bezirke oder Gruppen von Berechtigten abweichend von den Vorschriften der AO über die örtliche Zuständigkeit von Finanzbehörden einer anderen Familienkasse zu übertragen. Die Übertragung lediglich einzelner Sachaufgaben für bestimmte Gruppen von Berechtigten von der örtlich und damit gesamtzuständigen Familienkasse auf eine andere Familienkasse oder Behörde betrifft demgegenüber den Gegenstand und Inhalt der der Finanzbehörde zugewiesenen Aufgaben und damit eine Frage der sachlichen Zuständigkeit. Für eine derartige Aufspaltung der Gesamtzuständigkeit, indem für Entscheidungen des Festsetzungsverfahrens weiterhin die Wohnsitz-Familienkasse, für Entscheidungen des „Inkasso-Bereichs“ hingegen eine andere Familienkasse zuständig sein sollte, fehlt die erforderliche gesetzliche Grundlage.
Der Bundesfinanzhof hat in den Urteilen in BFHE 272, 19, BStBl II 2021, 712 und in BFH/NV 2021, 1100 weiter entschieden, dass § 127 AO einer Aufhebung der angegriffenen Verwaltungsakte, die von der -sachlich unzuständigen- Agentur für Arbeit Recklinghausen Inkasso-Service Familienkasse im Erhebungsverfahren getroffen wurden, nicht entgegensteht, und es sich bei der Entscheidung über eine Stundung zudem um eine Ermessensentscheidung handelt, auf die § 127 AO grundsätzlich keine Anwendung findet.
Bundesfinanzhof, Urteil vom 24. Februar 2022 – III R 1/21
- vgl. BFH, Urteil vom 25.02.2021 – III R 36/19, BFHE 272, 19, BStBl II 2021, 712[↩]
- FG Düsseldorf, Urteil vom 08.12.2020 – 10 K 2769/19 AO[↩]
- BFH, Urteil vom 25.02.2021 – III R 36/19, BFHE 272, 19, BStBl II 2021, 712, Rz 13 ff.; Schallmoser in Hübschmann/Hepp/Spitaler, § 63 FGO Rz 20[↩]
- Loose in Tipke/Kruse, § 222 AO Rz 45, § 227 AO Rz 117[↩]
- BFH, Urteile in BFHE 272, 19, BStBl II 2021, 712; vom 25.02.2021 – III R 28/20, BFH/NV 2021, 1100; und vom 07.07.2021 – III R 21/18, BFH/NV 2021, 1457[↩]
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