Zugang zu „Ghetto-Renten“

Das Bundessozialgericht erleichtert deb Zugang zu „Ghetto-Renten“. Nach dem im Jahr 2002 verkündeten „Gesetz zur Zahlbarmachung von Renten aus Beschäftigungen in einem Ghetto“ (ZRBG) können für Renten aus der deutschen gesetzlichen Rentenversicherung „Ghetto-Beitragszeiten“ angerechnet werden. Dies gilt für jüdische Verfolgte, die sich zwangsweise in einem Ghetto in einem vom Deutschen Reich besetzten oder diesem eingegliederten Gebiet aufgehalten und während dieser Zeit eine aus eigenem Willensentschluss zustande gekommene Beschäftigung gegen Entgelt ausgeübt haben. Für eine derartige Beschäftigung gelten Beiträge als entrichtet, aus denen Renten auch ins Ausland gezahlt werden können. Der Gesetzgeber hat damit an eine Rechtsprechung des Bundessozialgerichts aus dem Jahre 1997 angeknüpft, die auch für Arbeitsleistungen in einem Ghetto zwischen (an sich) versicherungspflichtigen Beschäftigungen und nicht versicherungspflichtiger Zwangsarbeit differenziert. Das ZRBG hat zu ca. 70.000 Anträgen geführt, die Bewilligungsquote der zuständigen Rentenversicherungsträger liegt jedoch durchschnittlich bei unter 10%.

Zugang zu „Ghetto-Renten“

Bisher war durch die Rechtsprechung nicht abschließend geklärt, in welcher Weise die für die Versicherungspflicht in der Rentenversicherung geltenden Regeln auch bei Anwendung des ZRBG zu beachten sind. Diese Streitfrage hat nun das Bundessozialgericht anhand dreier bei ihm anhängiger Revisionsverfahren geklärt:

In dem ersten Verfahren, das die Deutsche Rentenversicherung Rheinland-Pfalz betrag, war eine Ghetto-Beitragszeit in Krakau/Polen von März 1941 bis März 1943 streitig.

In diesem Verfahren wurde der 1922 geborene Kläger als Jude Opfer nationalsozialistischer Verfolgung. Das Landessozialgericht Rheinland-Pfalz hat als glaubhaft erachtet, dass er sich im Ghetto Krakau von März 1941 bis März 1943 zwangsweise aufgehalten hat und in dieser Zeit außerhalb des Ghettos als Elektromechaniker bei der deutschen Wehrmachtspost beschäftigt war; ferner, dass ihm die Arbeitsstelle über das deutsche Arbeitsamt im Ghetto vermittelt worden war, dass sein Lohn an den Judenrat ausgezahlt wurde und er an der Arbeit Suppe und Brot bekam. Der Kläger lebt in Frankreich und bezieht – aufgrund von Zeiten ab 01.01.1948 – eine französische Rente.

Die Beklagte hat den Rentenantrag des Klägers vom Juni 2003 abgelehnt; die Klage zum Sozialgericht Speyer ist erfolglos geblieben. Das Landessozialgericht Rheinland-Pfalz hat hingegen – nach persönlicher Anhörung des Klägers – die Beklagte zur Gewährung von Regelaltersrente ab Juni 1997 verurteilt: Das LSG hat eine Beschäftigung aus eigenem Willensentschluss angenommen. Im Hinblick auf den erzwungenen Aufenthalt im Ghetto und die sich daraus ergebende Schicksalsgemeinschaft der Juden seien als Entgelt im Sinne des ZRBG auch Zahlungen zu werten, die als Gegenleistung für die verrichtete Arbeit an den Judenrat erfolgt und dem Inhaftierten daher mittelbar zugeflossen seien. Mit den Ghetto-Beitragszeiten und den von der Beklagten für den Fall der Berücksichtigung von Beitragszeiten anerkannten verfolgungsbedingten Ersatzzeiten sei die allgemeine Wartezeit für den Anspruch auf Regelaltersrente erfüllt. Der Wohnsitz des Klägers in Frankreich stehe nicht entgegen, weil Rentenzahlungen aus der gesetzlichen Rentenversicherung von der EWGV 1408/71 erfasst seien. Unerheblich sei, dass der Kläger auch Leistungen nach dem EVZ-Stiftungsgesetz beziehe, weil er nach der Ghetto-Beitragszeit Zwangsarbeit verrichtet habe.

Mit der vom BSG zugelassenen Revision wendet sich die Beklagte gegen die Annahme eines nach dem ZRBG erheblichen Entgelts. Eine Beschäftigung sei nicht bereits dann gegen Entgelt ausgeübt worden, wenn ein Arbeitgeber für eine durch einen Verfolgten erbrachte Arbeitsleistung eine Gegenleistung an einem beliebigen Empfänger erbracht habe. Im Übrigen sei das ZRBG erst zum 1.7.1997 in Kraft getreten, sodass eine Rente frühestens ab diesem Zeitpunkt zu zahlen sei.

In dem zweiten Verfahren, dass die Deutsche Rentenversicherung Rheinland betrifft, ist eine Ghetto-Beitragszeit in Minsk/Weißrussland von Juli 1941 bis Juni 1943 streitig.

Der 1926 geborene Kläger wurde als Jude Opfer nationalsozialistischer Verfolgung. Das Landessozialgericht Nordrhein-Westfalen hat als glaubhaft erachtet, dass er in der streitigen Zeit auf eigene Initiative und durch Vermittlung/Zuweisung des Judenrats in einer Lederfabrik außerhalb des Ghettos gegen tägliches Mittagessen und wöchentliche Lebensmittelkarten beschäftigt war. Der Kläger lebt seit 1972 in Israel.

Die Beklagte hat den Rentenantrag des Klägers vom November 2002 abgelehnt; die Klage zum Sozialgericht Düsseldorf ist erfolglos geblieben. Das LSG Essen hat hingegen die Beklagte zur Gewährung von Regelaltersrente ab Juli 1997 verurteilt. Die allgemeine Wartezeit sei unter Berücksichtigung des Versicherungsverlaufs des Klägers in der israelischen Nationalversicherung erfüllt.

Mit der vom BSG zugelassenen Revision wendet sich die Beklagte gegen die Annahme einer Beschäftigung aus eigenem Willensentschluss sowie eines nach dem ZRBG erheblichen Entgelts. Weder seien die äußeren Beziehungen zwischen Betriebsinhaber und Arbeitenden festgestellt, noch, dass der Kläger nach Art und Umfang ein ausreichendes Entgelt erhalten habe. Hierfür seien eine Barentlohnung in nicht ganz unerheblicher Höhe oder Sachbezüge erforderlich, die insgesamt das Maß des freien Unterhalts überstiegen. Dies entspreche dem Entgeltbegriff der Ghetto-Rechtsprechung des BSG, den das ZRBG übernommen habe. Der Kläger habe für eine schwere Entladearbeit in der Lederfabrik lediglich Lebensmittel und Lebensmittelcoupons in nicht ermittelter Höhe erhalten. Damit habe die Leistung nicht ausgereicht, um seinen eigenen Unterhalt zu bestreiten, denn hierzu gehörten außer Nahrung jedenfalls noch Unterkunft, Heizmaterial und Kleidung.

In dem dritten, ebenfalls die Deutsche Rentenversicherung Rheinland betreffenden Fall ist eine Ghetto-Beitragszeit in Starachowice (Polen) von April 1941 bis Oktober 1942 streitig.

Die 1928 geborene Klägerin wurde als Jüdin Opfer nationalsozialistischer Verfolgung. Das Landessozialgericht Nordrhein-Westfalen hat als glaubhaft erachtet, dass sie in der streitigen Zeit auf Vermittlung des Judenrats in der MG-2-Abteilung der Hermann-Göring-Werke in Starachowice gegen Lebensmittelcoupons und Bargeld beschäftigt war. Die Klägerin lebt seit 1949 in Israel.

Die Beklagte hat den Rentenantrag der Klägerin vom Oktober 2002 abgelehnt; die Klage hat bereits vor dem Sozialgericht Düsseldorf zur Verurteilung der Beklagten geführt, Regelaltersrente ab Juli 1997 zu gewähren. Auch vor dem LSG Essen hatte die Klage im noch streitigen Umfang Erfolg. Das LSG hat ausgeführt, aufgrund der historischen Umstände sei für die streitige Zeit nicht von Zwangsarbeit, sondern von einer Beschäftigung aus eigenem Willensentschluss auszugehen; dies gelte auch angesichts des damals jugendlichen Alters der Klägerin von 12 Jahren. Der Entgeltlichkeit stehe nicht entgegen, dass es möglicherweise gelegentlich zu einer teilweisen Abzweigung von Lohnbestandteilen an den Judenrat gekommen sei. Die allgemeine Wartezeit sei unter Berücksichtigung des Versicherungsverlaufs der Klägerin in der israelischen Nationalversicherung erfüllt.

Mit der vom BSG Revision wendet sich die Beklagte gegen die Annahme eines nach dem ZRBG erheblichen Entgelts. Das LSG habe festgestellt, dass der Judenrat die Löhne zentral in Empfang genommen habe und die Auszahlung des Barlohns nicht immer gewährleistet gewesen sei, weil der Judenrat nicht selten einen Teil davon in Lebensmittel für die Allgemeinheit investiert habe. Eine versicherungspflichtige Beschäftigung liege aber nur dann vor, wenn die Entlohnung dem Beschäftigten selbst zugeflossen sei. Zahlungen oberhalb der Geringfügigkeitsgrenze seien nicht festgestellt. Auch sei die Lebensmittelversorgung der Klägerin für sich genommen so niedrig gewesen, dass sie unter der Grenze des nicht versicherungspflichtigen freien Unterhalts geblieben sei.

In allen drei heute verhandelten Revisionsverfahren führte dies jeweils zur Bestätigung der durch die Rentenversicherungsträger angefochtenen Berufungsurteile. Das Bundessozialgericht ist in allen drei Revisionsverfahren – unter ausdrücklicher Aufgabe seiner teilweise entgegen stehenden bisherigen Rechtsprechung – von Grundsätzen ausgegangen, die in mehrfacher Hinsicht Leitlinien zur Handhabung des ZRBG aufstellen:

(1) „Aus eigenem Willensentschluss“ kann eine Beschäftigung auch dann zustande gekommen sein, wenn für die Ghetto-Bewohner Arbeitspflicht bestand. Es kommt darauf an, dass der Betroffene nicht zu einer (spezifischen) Arbeit gezwungen wurde, sondern ? zB bei einer Vermittlung durch den Judenrat ? das „Ob“ oder „Wie“ der Arbeit beeinflussen konnte.

(2) „Entgelt“ ist jegliche Entlohnung, ob in Geld oder Naturalien (zB Nahrungsmitteln). Geringfügigkeitsgrenzen sind nicht zu prüfen. Unerheblich ist, ob lediglich „freier Unterhalt“ gewährt wurde.

(3) Es kommt nicht darauf an, ob das Entgelt dem Beschäftigten direkt ausgehändigt wurde oder an einen Dritten (zB den Judenrat zur Versorgung des Ghettos) floss.

(4) Für eine Ghetto-Beschäftigung besteht kein Mindestalter.

Im ersten Fall hat das BSG zusätzlich entschieden, dass dem Zahlungsanspruch des Klägers sein Wohnsitz in einem anderen Mitgliedstaat der EU – hier: in Frankreich – nicht entgegensteht. Ferner hat es den Rentenbeginn auf den 1. Juli 1997 (Inkrafttreten des ZRBG) – statt 1. Juni 1997 – festgelegt.

Im zweiten Fall urteilte das Bundessozialgericht, dass es nicht entscheidend ist, ob das Entgelt für die schwere Arbeit des Klägers „angemessen“ war oder nicht. Ebenso wenig war darauf abzustellen, ob und welche Beziehungen zwischen dem (direkten) Arbeitgeber (dem Inhaber der Lederfabrik) und dem Kläger bestanden oder ob der Judenrat als Verleiher im Sinne einer „Arbeitnehmer-Überlassung“ fungierte.

Im dritten Fall der zur Zeit der Ghetto-Beschäftigung 12 bis 14 Jahre alten Klägerin hat das BSG schließlich entschieden, dass für eine Ghetto-Beschäftigung kein Mindestalter besteht.

Bundessozialgericht, Urteile vom 2. Juni 2009 – B 13 R 81/08 R, B 13 R 85/08 R und B 13 R 139/08 R