Ein ehrenamtlicher Richter am Finanzgericht ist von seinem Amt zu entbinden, wenn und solange gegen ihn Anklage wegen einer Tat erhoben ist, die den Verlust der Fähigkeit zur Bekleidung öffentlicher Ämter zur Folge haben kann. Auf die Entscheidung über die Eröffnung des Hauptverfahrens kommt es nicht an. Erforderlich ist die abstrakte Möglichkeit des Verlustes, nicht aber, dass nach den Umständen des Einzelfalls mit der Aberkennung tatsächlich zu rechnen ist.
Dem verfassungsrechtlichen Anspruch auf Zugang zu öffentlichen Ämtern wird dadurch Genüge getan, dass der ehrenamtliche Richter, wenn er rechtskräftig außer Verfolgung gesetzt oder freigesprochen ist, die Aufhebung des Beschlusses über seine Amtsentbindung beantragen kann.
In dem hier vom Bundesfinanzhof entschiedenen Fall war der Antragsteller zum ehrenamtlichen Richter am Finanzgericht für die Amtsperiode 2020 bis 2025 gewählt. Die Präsidentin des Finanzgericht beantragte, den Antragsteller von seinem Amt als ehrenamtlicher Richter zu entbinden. Zur Begründung führte sie aus, dass gegen den Antragsteller Anklage wegen Steuerhinterziehung erhoben worden sei. Der Antragsteller teilte mit, er könne zwar den Antrag der Präsidentin nachvollziehen. Für ihn gelte aber weiter die Unschuldsvermutung. Es könne nicht sein, dass eine Anklage, über die auch fast zweieinhalb Jahre nach ihrer Erhebung nicht entschieden worden sei, ihn an der Ausübung des Amtes eines ehrenamtlichen Richters am Finanzgericht hindere. Die zuständige Staatsanwaltschaft teilte unter Übersendung des Beschlusses des zuständigen Landgerichts mit, dass das Landgericht die Eröffnung des Hauptverfahrens abgelehnt habe, der Beschluss aber noch nicht rechtskräftig sei. Darauf beschloss das Finanzgericht, dass der Antragsteller von seinem Amt als ehrenamtlicher Richter am Finanzgericht entbunden sei. Der Bundesfinanzhof bestätigte nun die Amtsenthebung und wies die Beschwerde des Antragstellers als unbegründet zurück:
Die Beschwerde ist zulässig. Gegen den Beschluss des für die Entscheidung über den Antrag auf Amtsentbindung eines ehrenamtlichen Richters zuständigen Bundesfinanzhofs des Finanzgericht (vgl. § 21 Abs. 3 FGO) ist die Beschwerde (§ 128 FGO) an den Bundesfinanzhof zulässig.
Die Beschwerde ist jedoch unbegründet. Der Beschluss des Finanzgericht ist rechtmäßig und verletzt den Antragsteller nicht in seinen Rechten. Eine Richtervorlage an das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) kommt nicht in Betracht.
Der Beschluss ist formell ordnungsgemäß. Nach § 21 Abs. 1 Nr. 1 FGO ist ein ehrenamtlicher Richter von seinem Amt zu entbinden, wenn er nach den §§ 17 bis 19 FGO nicht berufen werden konnte oder nicht mehr berufen werden kann. Nach § 18 Abs. 1 Nr. 2 FGO sind vom Amt des ehrenamtlichen Richters Personen ausgeschlossen, gegen die Anklage wegen einer Tat erhoben ist, die den Verlust der Fähigkeit zur Bekleidung öffentlicher Ämter zur Folge haben kann. Nach § 21 Abs. 3 Satz 1 Alternative 1 FGO trifft die Entscheidung der vom Präsidium für jedes Geschäftsjahr im Voraus bestimmte Bundesfinanzhof in den Fällen des § 21 Abs. 1 Nr. 1 FGO auf Antrag des Präsidenten des Finanzgerichts. Die Entscheidung ergeht durch Beschluss nach Anhörung des ehrenamtlichen Richters (§ 21 Abs. 3 Satz 2 FGO). Dem Antragsteller wurde im Laufe des Verfahrens rechtliches Gehör gewährt. Der Beschluss wurde von dem für die Verfahren der ehrenamtlichen Richter zuständigen Senat des Finanzgericht gefasst.
Der Beschluss ist auch materiell ordnungsgemäß. Die Voraussetzungen von § 21 Abs. 1 Nr. 1 i.V.m. § 18 Abs. 1 Nr. 2 FGO lagen vor.
Gegen den Antragsteller wurde Anklage (§ 170 Abs. 1 der Strafprozessordnung -StPO-) wegen Steuerhinterziehung (§ 370 Abs. 1 Nr. 1, Abs. 3 Nr. 1 der Abgabenordnung -AO-) erhoben. Gemäß § 375 Abs. 1 Nr. 1 AO kann das Gericht die Fähigkeit, öffentliche Ämter zu bekleiden, absprechen (§ 45 Abs. 2 StGB).
Der Wortlaut des § 18 Abs. 1 Nr. 2 FGO ist eindeutig. Er stellt allein auf die Erhebung der Anklage durch die Staatsanwaltschaft (§§ 151, 152 Abs. 1, § 170 Abs. 1 StPO) -und nicht auf die Eröffnung des Hauptverfahrens (§ 203 StPO)- ab. Dies ist nicht verfassungswidrig1. Etwaige Bedenken -beispielsweise wegen der richterlichen Unabhängigkeit gemäß Art. 97 Abs. 1 GG- greifen nicht durch. Die Anklageerhebung wegen einer Tat von solchem Gewicht, dass das Gesetz den Verlust oder die Möglichkeit der Aberkennung der Fähigkeit, öffentliche Ämter zu bekleiden, vorsieht, reicht für einen Vertrauensverlust der Allgemeinheit und der Verfahrensbeteiligten hinsichtlich der für die Amtsausübung erforderlichen Integrität und Objektivität des Angeklagten aus und gefährdet auch dessen innere persönliche Objektivität und Freiheit, die Voraussetzung unbefangener Urteilsfähigkeit sind2.
§ 18 Abs. 1 Nr. 2 FGO verletzt weder das Recht auf Unschuldsvermutung nach Art. 6 Abs. 2 EMRK, das in Art.20 Abs. 3 und Art. 28 Abs. 1 GG verankerte Rechtsstaatsprinzip noch das Recht einer Person auf den Zugang zu einem öffentlichen Amt nach Art. 33 Abs. 2 GG.
Schutzgut der Vorschriften zur Amtsentbindung ist nicht die Unschuldsvermutung, sondern das Vertrauen der Beteiligten in die Rechtsprechung, das erschüttert sein könnte, wenn ein Richter an der Entscheidungsfindung mitwirkt, der schwerer Straftaten verdächtig ist3. Durch diese Regelungen werden die Rechte des Betroffenen nicht unverhältnismäßig eingeschränkt. Nach § 21 Abs. 5 FGO ist nämlich auf Antrag des ehrenamtlichen Richters die Entscheidung nach § 21 Abs. 3 Satz 1 Alternative 1 i.V.m. § 18 Abs. 1 Nr. 2 FGO (im Gesetzestext versehentlich als § 18 Nr. 2 bezeichnet) aufzuheben, wenn Anklage erhoben war und der Angeschuldigte rechtskräftig außer Verfolgung gesetzt oder freigesprochen worden ist. Dadurch wird dem Anspruch des Bewerbers oder Inhabers einer ehrenamtlichen Richterstelle am Finanzgericht auf Unschuldsvermutung und dem rechtsstaatlich gewährleisteten Anspruch auf Zugang zu öffentlichen Ämtern Genüge getan. Er kann, sobald die Voraussetzungen für den Amtsentbindungsgrund nicht mehr vorliegen, den Antrag stellen, dass der Beschluss, der ihn von seinem Amt entbunden hat, aufgehoben wird. Da dem Finanzgericht hierbei kein Ermessen eingeräumt wird („ist … aufzuheben“), kann der ehrenamtliche Richter dann wieder tätig werden. Es reicht jedoch nicht aus, wenn das Strafgericht lediglich die Eröffnung des Hauptverfahrens abgelehnt hat (§ 204 StPO), die Staatsanwaltschaft dagegen aber Rechtsmittel eingelegt hat und über diese noch nicht entschieden ist. Nach dem klaren Wortlaut des § 21 Abs. 5 FGO muss der Angeschuldigte vielmehr rechtskräftig außer Verfolgung gesetzt -neben der rechtskräftigen Nichteröffnung der Hauptverhandlung z.B. auch durch eine endgültige Einstellung etwa wegen eines Verfahrenshindernisses (§ 206a StPO) oder wegen Strafrechtsänderung (§ 206b StPO)- oder durch rechtskräftiges Urteil freigesprochen worden sein4.
Nach § 18 Abs. 1 Nr. 2 FGO ist zudem ausreichend, dass die Anklage wegen einer Tat erhoben ist, die dem Strafgericht die Möglichkeit gibt, dem Verurteilten die Fähigkeit, öffentliche Ämter zu bekleiden, abzuerkennen („… zur Folge haben kann.“). Entscheidend ist die abstrakte Möglichkeit, nicht aber, dass nach den Umständen des Falls mit der Aberkennung tatsächlich zu rechnen ist5.
Im Streitfall wurde über die Rechtsmittel der Staatsanwaltschaft gegen den Beschluss des Strafgerichts über die Ablehnung der Eröffnung der Hauptverhandlung noch nicht entschieden, sodass die Anklage weiter besteht und der Antragsteller weder rechtskräftig außer Verfolgung gesetzt noch freigesprochen worden ist. Insoweit kommt dem Beschluss des Bundesgerichtshofs vom 24.07.20196 keine Bedeutung für den Streitfall zu, da es für § 18 Abs. 1 Nr. 2 FGO nicht darauf ankommt, ob der Ausspruch der Nebenfolge nach § 45 Abs. 2 StGB im konkreten Fall wahrscheinlich ist. Sollte das Rechtsmittel der Staatsanwaltschaft gegen die Nichteröffnung des Hauptverfahrens keinen Erfolg haben, kann der Antragsteller zudem gemäß § 21 Abs. 5 FGO beantragen, dass der Beschluss aufgehoben wird. Dadurch wird seinem verfassungsrechtlich geschützten Anspruch auf Zugang zu öffentlichen Ämtern Genüge getan.
Der Beschluss ist auch verhältnismäßig, selbst wenn noch nicht absehbar ist, wann für den Fall der Zulassung einer Hauptverhandlung eine solche durchgeführt würde. Der Antragsteller wird nicht in seinem Recht auf ein faires Verfahren aus Art. 6 Abs. 1 EMRK verletzt. Dieses verlangt, dass ein Strafverfahren innerhalb angemessener Frist abgeschlossen wird. Die Ermittlungsbehörden und Gerichte dürfen den Vorgang nicht unbearbeitet liegenlassen, sondern müssen das Verfahren hinreichend fördern. Der Bundesfinanzhof verkennt nicht, dass nach den Angaben des Antragstellers die ihm zur Last gelegten Tatvorwürfe auf die Jahre 2009, 2010 und 2012 zurückgehen, die Anklage im Jahr 2018 erhoben wurde, mit einer Entscheidung über die Rechtsmittel der Staatsanwaltschaft gegen die Entscheidung des Strafgerichts über die Nichteröffnung der Hauptverhandlung wegen vorrangig zu bearbeitender Verfahren noch nicht zu rechnen ist und der Antragsteller jedenfalls bis zu dieser Entscheidung von der Tätigkeit als ehrenamtlicher Richter am Finanzgericht entbunden bleibt. Der zeitliche Abstand zwischen Tat und Urteil gehört jedoch zu den Umständen, die nach diesen am Einzelfall orientierten Maßgaben Einfluss auf die Bemessung der Strafe im Strafverfahren gewinnen können. Ein großer zeitlicher Abstand zwischen Tat und Urteil und die mit einer langen Verfahrensdauer einhergehenden Belastungen des Angeklagten -wie das Rechnenmüssen mit einer Freiheitsstrafe oder nach Auffassung des Bundesfinanzhofs auch der Ausschluss und die Entbindung von einem Amt als ehrenamtlicher Richter am Finanzgericht- sind gegebenenfalls im Rahmen der nach den §§ 46 ff. StGB vorzunehmenden Strafzumessung getrennt zu prüfende und im tatgerichtlichen Urteil zu erörternde Strafzumessungsgesichtspunkte7. Für die Erfüllung der Voraussetzungen des § 18 Abs. 1 Nr. 2 FGO ist hingegen ausreichend, dass Anklage erhoben ist. Bereits dadurch wird das Vertrauen der Allgemeinheit in die Integrität des ehrenamtlichen Richters am Finanzgericht beschädigt.
Im Übrigen ist im Hinblick auf die von dem Antragsteller gerügte Dauer seines Strafverfahrens darauf hinzuweisen, dass aufgrund von § 198 des Gerichtsverfassungsgesetzes die Möglichkeit besteht, eine angemessene Entschädigung zu erhalten, wenn er infolge einer unangemessenen Dauer eines Gerichtsverfahrens einen materiellen oder auch immateriellen Nachteil erleidet.
Eine Richtervorlage nach Art. 100 Abs. 1 Satz 1 GG kommt nicht in Betracht. Danach ist, wenn ein Gericht ein Gesetz, auf dessen Gültigkeit es bei der Entscheidung ankommt, für verfassungswidrig hält, das Verfahren auszusetzen und, wenn es sich um die Verletzung der Verfassung eines Landes handelt, die Entscheidung des für Verfassungsstreitigkeiten zuständigen Gerichtes des Landes, wenn es sich um die Verletzung dieses Grundgesetzes handelt, die Entscheidung des BVerfG einzuholen. Der Bundesfinanzhof hält § 21 Abs. 3 Satz 1 Alternative 1 i.V.m. § 21 Abs. 1 Nr. 1 i.V.m. § 18 Abs. 1 Nr. 2 FGO aus den unter II. 2.b bb genannten Gründen jedoch nicht für verfassungswidrig.
Bundesfinanzhof, Beschluss vom 29. Juli 2021 – II B 12/21
- Brandis in Tipke/Kruse, § 18 FGO Rz 2[↩]
- vgl. Schmid in Hübschmann/Hepp/Spitaler -HHSp-, § 18 FGO Rz 11; Müller-Horn in Gosch, FGO § 18 Rz 5; vgl. auch BGH, Urteil vom 06.08.1987 – 4 StR 319/87, BGHSt 35, 28[↩]
- vgl. Wolff-Dellen in: Fichte/Jüttner, SGG, 3. Aufl.2020, zu dem insoweit vergleichbaren § 17 SGG, Rz 4[↩]
- vgl. Schmid in HHSp, § 18 FGO Rz 10[↩]
- Schmid in HHSp, § 18 FGO Rz 10; Brandis in Tipke/Kruse, § 18 FGO Rz 2[↩]
- BGH, Beschluss vom 24.07.2019 – 1 StR 363/18, HFR 2020, 411[↩]
- vgl. BGH, Großer Senat für Strafsachen, Beschluss vom 12.06.2017 – GSSt 2/17, NJW, 2017, 3537, Rz 25 und 29[↩]