Hat der Steuerpflichtige einen Beleg im Rahmen seiner Einkommensteuererklärung nicht eingereicht, weil er ihn versehentlich im Ordner für das Folgejahr abgeheftet hatte, so ist eine spätere Änderung des (bestandskräftigen) Steuerbescheids nach Ansicht des Finanzgerichts Münster ausgeschlossen, da den Steuerpflichtigen insoweit der Vorwurf eines groben Verschuldens (§ 173 Abs. 1 Nr. 2 AO) treffe.
Nach § 173 Abs. 1 Nr. 2 Satz 1 AO sind Steuerbescheide aufzuheben oder zu ändern, soweit Tatsachen oder Beweismittel nachträglich bekannt werden, die zu einer niedrigeren Steuer führen und den Steuerpflichtigen kein grobes Verschulden daran trifft, dass die Tatsachen oder Beweismittel erst nachträglich bekannt geworden sind. Diese Voraussetzungen liegen im Fall eines falsch abgehefteten Belegs jedoch nicht vor.
Dem Finanzamt ist zwar nachträglich eine Tatsache bekannt geworden, die zu einer niedrigeren Steuer führen würde. Tatsache im Sinne des § 173 Abs. 1 Nr. 2 AO ist alles, was Merkmal oder Teilstück eines gesetzlichen Steuertatbestandes sein kann, also Zustände, Vorgänge, Beziehungen, Eigenschaften materieller oder immaterieller Art1.
Die Kläger hatten im hier vom Finanzgericht Münster entschiedenen Fall in ihrer Einkommensteuererklärung 2006 keine Angaben zu den Handwerkerleistungen der Firma Y. gemacht. Sie hatten lediglich Aufwendungen für haushaltsnahe Beschäftigungsverhältnisse und Dienstleistungen in anderer Hinsicht geltend gemacht. Die entsprechenden Belege haben bei der Veranlagung nach Aktenlage auch vorgelegen. Die Rechnung der Firma Y. vom 04.12.2006 hat dabei keine Berücksichtigung gefunden. Das Finanzamt erlangte erst durch die Antragstellung des Kl. mit Schreiben vom 10.10.2008 positive Kenntnis davon, dass die Kl. die Montagekosten aus der Rechnung der Firma Y. für das Streitjahr 2006 nicht geltend gemacht hatten. Der Bescheid über ESt 2006 datierte vom 16.11.2007. Insoweit ist dem Finanzamt diese Tatsache erst nachträglich bekannt geworden.
Die Steuerpflichtigen trifft jedoch ein grobes Verschulden am nachträglichen Bekanntwerden der Tatsache.
Als grobes Verschulden im Sinne des § 173 Abs. 1 Nr. 2 AO hat der Steuerpflichtige Vorsatz und grobe Fahrlässigkeit zu vertreten. Die hier allein in Betracht kommende grobe Fahrlässigkeit liegt vor, wenn der Steuerpflichtige die ihm nach seinen persönlichen Fähigkeiten und Verhältnissen zumutbare Sorgfalt in ungewöhnlichem Maße und in nicht entschuldbarer Weise verletzt2. Gemäß § 150 Abs. 2 Satz 1 AO sind die Angaben in der Steuererklärung nach bestem Wissen und Gewissen zu machen. Um die Steuererklärung vollständig und wahrheitsgemäß abgeben zu können, muss der Steuerpflichtige das Erklärungsformular und die amtlichen Anleitungen zur ESt gewissenhaft durchlesen. Regelmäßig handelt grob fahrlässig, wer eine im Steuererklärungsformular ausdrücklich gestellte, auf einen bestimmten Vorgang bezogene und für ihn verständliche Frage nicht beantwortet3. Beruht dagegen die unvollständige Steuererklärung allein auf einem Rechtsirrtum infolge mangelnder Kenntnisse steuerrechtlicher Vorschriften, ist dies dem Steuerpflichtigen dann nicht als grobes Verschulden anzulasten, wenn der Rechtsirrtum subjektiv entschuldbar ist4. Das kann insbesondere der Fall sein, wenn unklare bzw. missverständlich formulierte Fragen in Erklärungsvordrucken nicht beantwortet werden, etwa wenn ein Formular lediglich die gesetzliche Überschrift eines Paragrafen des Einkommensteuergesetzes wiederholt ohne weitere Erläuterungen zu geben5 oder wenn das bloße Nichtverstehen einer Frage des Erklärungsformulars für den Fehler ursächlich war und die Anordnung der Fragen auf dem Erklärungsvordruck ein falsches Verständnis begünstigt6. Es kann weiter der Fall sein, wenn der Steuerpflichtige in Unkenntnis des Zu- und Abflussprinzips des § 11 EStG bei der Anfertigung seiner Steuererklärung eine den Werbungskosten zuzuordnende Vorauszahlung vergisst, weil er die erst im Folgejahr eingegangene Rechnung bei den Belegen des Folgejahres abgeheftet hat7 oder wenn der Steuerberater dem Steuerpflichtigen als steuerlichen Laien, eine sogenannte komprimierte – um nicht ausgefüllte Felder – bereinigte ElsterErklärung zur Prüfung und Unterzeichnung überlässt und die Erklärung als letzte bekannte Anschrift der ausgezogenen Kindesmutter die alte gemeinsame Familienadresse enthält8.
Dem gegenüber handelt ein Steuerpflichtiger grob schuldhaft im Sinne des § 173 Abs. 1 Nr. 2 AO, wenn dieser einen Steuerbescheid bestandskräftig werden lässt, obwohl sich ihm innerhalb der Einspruchsfrist hätte aufdrängen müssen, dass bei dem Finanzamt bisher nicht bekannte Tatsachen noch geltend zu machen sind9 und wenn Aufwendungen unvollständig erklärt worden sind10.
Bei Anwendung dieser Grundsätze hat das Finanzgericht Münster nach den Gesamtumständen des Streitfalls die Überzeugung gewonnen, dass sich die Kl. bezüglich der Nichtberücksichtigung der Aufwendungen der Montageleistungen der Firma Y. in der Rechnung vom 04.12.2006 grobe Fahrlässigkeit vorwerfen lassen müssen: Wie die Kläger selbst vortragen, war ihnen die Steuerermäßigung für Aufwendungen für die Inanspruchnahme von haushaltsnahen Beschäftigungsverhältnissen und Dienstleistungen nach § 35 a EStG bekannt. Dies wird auch daran deutlich, dass sie in dem in der Steuererklärung dafür vorgesehenen Feld Aufwendungen in Höhe von x.xxx,xx € angesetzt haben und entsprechende Belege vorgelegt hatten. Ferner war ihnen das Zufluss- und Abflussprinzip des § 11 EStG bekannt. Sie tragen selbst weiter vor, dass sie zunächst die hier im Streit stehenden Aufwendungen dem Veranlagungszeitraum 2006 zuordnen wollten. Da sie aber aus der Rechnung nicht erkennen konnten, in welchem Umfang diese Montageleistungen enthielt, hätten sie zunächst Rückfrage bei der Firma Y. gehalten. Da die Rückfrage nicht sofort beantwortet worden sei, sei dann später der Beleg versehentlich dem Belegordner des Jahres 2007 zugeordnet worden.
Das Finanzgericht Münster ist der Auffassung, dass die Kläger Montageaufwendungen der Firma Y. grob schuldhaft nicht bereits in der Erklärung angesetzt haben. Im Gegensatz zum Fall des Finanzgerichts Köln11 unterscheidet sich der vorliegende Fall dahingehend, dass den Klägern das Zu- und Abflussprinzip des § 11 EStG bekannt war. Sie unterlagen insoweit keinem Rechtsirrtum, der entschuldbar war. Wenn aber nach der oben dargestellten Rechtsprechung des Bundesfinanzhofs bereits ein grobes Verschulden im Sinne des § 173 Abs. 1 Nr. 2 AO vorliegt, wenn im Mantelbogen ausdrücklich bestimmte Aufwendungen abgefragt werden und diese dann gar nicht erklärt werden, so liegen die Voraussetzungen erst Recht vor, wenn Aufwendungen erklärt werden aber unvollständig sind. Die Kl. hätten nach ihrem Kenntnisstand die Aufwendungen geltend machen können und durch eine Überwachung der Rückfrage bei der Firma Y. sowie eine entsprechende ordnungsgemäße Belegablage das nachträgliche Bekanntwerden vermeiden können. Sie hätten auch eine zunächst vorläufige Erklärung abgeben oder das Verfahren durch einen Einspruch offen halten können. Das Finanzgericht Münster verkennt dabei nicht, dass es sicherlich jedem einmal passieren kann, dass ein Beleg falsch zugeordnet wird. Auf der anderen Seite ist aber auch nicht verkennen, dass bestandskräftige Steuerbescheide nur unter sehr engen Voraussetzungen geändert werden können. Fehler, die erkennbar waren und hätten vermieden werden können, sind dabei in der Regel als grob fahrlässig zu werten. Eine andere Betrachtungsweise würde zu einer Aufweichung der Bestandskraft führen.
Finanzgericht Münster, Urteil vom 15. Dezember 2011 – 11 K 4034/09 E
- siehe BFH, Urteile vom 08.12.1998 – IX R 14/97 BFH/NV 1999, 743; und vom 09.08.1991 – III R 24/87, BFHE 165, 454, BStBl. II 1992, 65; FG Niedersachsen Urteil vom 21.01.2003 – 13 K 389/99, EFG 2003, 749; FG Münster, Urteil vom 14.08.2008 – 2 K 3152/05 E, EFG 2010, 292[↩]
- siehe BFH, Urteil vom 19.12.2006 – VI R 59/02, BFH/NV 2007, 866; FG Münster, Urteil vom 14.08.2008 – 2 K 3152/05 E, EFG 2010, 292[↩]
- vgl. BFH, Urteil vom 06.10.2004 – X R 14/02 BFH/NV 2005, 156; BFH, Beschluss vom 04.12.2006 – VI B 87/06, BFH/NV 2007, 390; BFH, Urteil vom 19.12.2006 – VI R 59/02, BFH/NV 2007, 866; FG Münster, Urteil vom 14.08.2008 – 2 K 3152/05 E, EFG 2010, 292[↩]
- siehe BFH, Urteil vom 19.12.2006 – VI R 59/02 BFH/NV 2007, 866[↩]
- vgl. FG Sachsen-Anhalt, Urteil vom 09.09.1999 – 2 K 120/99, wistra 2000, 199[↩]
- Nds. FG, Urteil vom 21.01.2003 – 13 K 389/99, EFG 2003, 749[↩]
- vgl. FG Köln, Urteil vom 05.09.1991 – 7 K 476/90, EFG 1992, 171[↩]
- s. Nds. FG, Urteil vom 24.05.2011 – 3 K 249/10, EFG 2011, 1677[↩]
- s. Nds. FG, Urteil vom 31.03.2005 – 3 K 165/04[↩]
- vgl. BFH, Beschluss vom 21.10.2009 – IX R 36/08, vorgehend FG Baden-Württemberg, Urteil vom 08.04.2008 – 4 K 250/05, EFG 2008, 1842[↩]
- FG Köln, Urteil vom 05.09.1991 – 7 K 476/90[↩]