Der Streit um die offenbare Unrichtigkeit

Steht nach Aktenlage nicht fest, ob ein mechanisches Versehen oder ob ein anderer die Anwendung von § 129 Satz 1 AO ausschließender Fehler zu einer offenbaren Unrichtigkeit des Bescheids geführt hat, muss das Finanzgericht den Sachverhalt insoweit aufklären und gegebenenfalls auch Beweis erheben. Lässt sich nicht abschließend klären, wie es zu der Unrichtigkeit im Bescheid gekommen ist und stehen sich zwei nicht nur theoretisch denkbare hypothetische Geschehensabläufe gegenüber, von denen einer eine Berichtigung ausschließt, darf nicht berichtigt werden. Die objektive Feststellungslast trifft das Finanzamt, wenn es sich auf die Berichtigungsvorschrift beruft.

Der Streit um die offenbare Unrichtigkeit

Eine Berichtigung nach § 129 Satz 1 AO ist auch ausgeschlossen, wenn das Finanzamt feststehenden Akteninhalt bewusst nicht zur Kenntnis nimmt und wenn sicher anzunehmen ist, dass bei gebotener Kenntnisnahme ein mechanischer Übertragungsfehler bemerkt und/oder vermieden worden wäre. Dann ist nicht allein der mechanische Übertragungsfehler für die Unrichtigkeit des Bescheids ursächlich geworden, sondern zugleich ein die Willensbildung betreffender Fehler.

In dem hier vom Bundesfinanzhof entschiedenen Streitfall gaben die klagenden Eheleute ihre Einkommensteuererklärung für 2011 in Papierform ab. In der Anlage G erklärten sie für den Ehemann in Zeile 8 (Gewinn als Mitunternehmer) einen laufenden Beteiligungsverlust von – 1.306 € („XY Grundbesitz GmbH aus Z, mit Angabe der dortigen Steuernummer“) und in Zeile 23 (Summe der positiven Einkünfte aus Gewerbebetrieb) sowie auf der Rückseite des Formulars in Zeile 40 (Steuerpflichtiger Teil des Veräußerungsgewinns bei Veräußerung von Anteilen an Kapitalgesellschaften) einen steuerpflichtigen Veräußerungsgewinn von 204.464 €. Der Anlage G waren eine formlose Berechnung des Veräußerungsgewinns sowie Auszüge aus dem notariellen Veräußerungsvertrag beigefügt. Demnach war der Ehemann ursprünglich mit 75 000 von 693 600 Aktien an der … AG mit Sitz in Z beteiligt. Aus dem Verkauf und der Abtretung dieser Aktien mit notariellem Vertrag vom 17.08.2011 erlöste er 540.500 €. In derselben Urkunde, aber nicht von ihm, wurde auch ein Geschäftsanteil an einer „XY … GmbH E/F“ übertragen. Diese Firmenbezeichnung erscheint sowohl in der Ermittlung des Veräußerungsgewinns als auch auf den Kopien des notariellen Übertragungsvertrags, soweit er vorliegt. Das Finanzamt berücksichtigte weder den laufenden Verlust noch den Veräußerungsgewinn. Der Einkommensteuerbescheid 2011 vom 21.12.2012 enthielt u.a. die Erläuterung: „Ihre erklärten Verluste aus der Grundstücksgemeinschaft /Erbengemeinschaft /Mitunternehmerschaft können erst nach entsprechender Mitteilung des für die Feststellung zuständigen Finanzamts berücksichtigt werden.“ Auf der Vorderseite der Anlage G ist handschriftlich mit orangefarbigem Filzstift die Zahl -1.306 € in Klammern gesetzt und daneben vermerkt: „ESt4B noch nicht vorliegend.“ Weitere Bearbeitungsspuren enthalten weder die Anlage G noch die dazu eingereichten Anlagen. Am 31.01.2013 änderte das Finanzamt den Einkommensteuerbescheid 2011 gemäß § 175 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 AO und berücksichtigte bei dem Kläger negative Einkünfte aus Gewerbebetrieb von – 1.305 €. Dieser Bescheid wurde bestandskräftig. Unter dem 13.10.2015 berichtigte das Finanzamt den Einkommensteuerbescheid 2011 nach § 129 AO und setzte beim Kläger erstmals Einkünfte aus Gewerbebetrieb aus Veräußerungsgewinnen in Höhe von 204.464 € an. Der dagegen eingelegte Einspruch blieb erfolglos.

Im Klageverfahren hat das Thüringer Finanzgericht die Sachbearbeiterin der Erstveranlagung (Frau A) schriftlich u.a. zum Zustandekommen des Fehlers befragt und den Beteiligten Gelegenheit gegeben, ergänzende schriftliche Fragen an die Zeugin zu richten. Zum Termin zur mündlichen Verhandlung hat es zwei weitere Zeuginnen (Frau B und Frau C) prozessleitend unter Angabe des Beweisthemas geladen.

Die Zeugin A hat sich vor der mündlichen Verhandlung umfangreich zum Beweisthema schriftlich geäußert und u.a. wörtlich ausgeführt:

„Die Anlagen des Stpfl. … habe ich in der Eile wohl für Anlagen zu den gewerblichen Beteiligungseinkünften „XY Grundbesitz GmbH aus Z, mit Angabe der dortigen Steuernummer“ gehalten und für den späteren Abgleich mit entsprechenden Grundlagenbescheiden in der Akte hinter Anlage G ohne nähere Prüfung abgelegt, weil sodann ohnehin der Wert laut Grundlagenbescheid bindend ist. Es kommt häufig vor, dass Stpfl. umfangreiche Anlagen und Verträge zu ihren Beteiligungseinkünften mit an das Wohnsitzfinanzamt senden, weil sie um die Arbeitsabläufe zwischen Wohnsitzfinanzamt und Feststellungsfinanzamt nicht wissen.“

Und weiter heißt es an anderer Stelle:

„Dass meinerseits die Kompletterfassung der Anlage G (Zeile 40) versäumt wurde, hätte ich bei Sichtung der Anlagen des Steuerpflichtigen bemerken müssen. Insbesondere hätte ich anhand der Betragshöhen in der Anlage wahrnehmen müssen, dass es sich um keine Anlagen und Unterlagen im Zusammenhang mit den Eintragungen in Zeile 8 handeln kann, weil an keiner Stelle der Anlage der Betrag ‚-1.306 €‘ aufgezeigt ist. Ich habe auf Bl. 21 [betr. Ermittlung des Veräußerungsgewinns] wohl nur ‚XY … GmbH‘ beim ‚überfliegenden‘ Lesen wahrgenommen und somit voreilig geschlussfolgert, dass es sich um Dokumente im Zusammenhang mit den Beteiligungseinkünften laut Zeile 8 der Anlage G handeln muss – ein bedauerlicher Flüchtigkeitsfehler.“

Im Termin zur mündlichen Verhandlung hat das Finanzgericht auch die Zeuginnen C und B vernommen. Die Kläger haben anschließend hilfsweise u.a. die persönliche Vernehmung der Zeugin A beantragt, weil ihre schriftliche Aussage nicht glaubhaft erscheine und in Widerspruch zu den anderen Zeugenaussagen stehe. Das Thüringer Finanzgericht hat die Klage ohne weitere Beweiserhebung und ohne einen vorherigen rechtlichen Hinweis, dass es seines Erachtens nun auf die Ergebnisse der Beweisaufnahme nicht mehr ankomme, abgewiesen1. Mit der Revision verfolgen die Kläger ihr Begehren weiter. Sie rügen die Verletzung von § 129 AO sowie Verfahrensmängel und erhielten nun vom Bundesfinanzhof Recht, der das Urteil des Thüringer Finanzgerichts aufhob und der Klage stattgab; der bestandskräftige Einkommensteuerbescheid für 2011 vom 31.01.2013 durfte nicht nach § 129 AO berichtigt werden, weil nicht ausgeschlossen werden kann, dass ein Denkfehler zu der offenbaren Unrichtigkeit des Bescheids geführt hat. Dies geht zu Lasten des insoweit feststellungsbelasteten Finanzamtes.

Nach § 129 Satz 1 AO kann die Finanzbehörde Schreibfehler, Rechenfehler und ähnliche offenbare Unrichtigkeiten, die beim Erlass eines Verwaltungsakts unterlaufen sind, jederzeit berichtigen.

Ähnliche offenbare Unrichtigkeiten in diesem Sinne sind nur mechanische Versehen wie beispielsweise Eingabe- oder Übertragungsfehler, die ebenso mechanisch, d.h. ohne weitere Prüfung, erkannt und berichtigt werden können. Davon abzugrenzen sind Fehler im Bereich der bewussten Willensbildung. Sie sind Schreib- oder Rechenfehlern nicht ähnlich; ihre Folgen können deshalb nicht nach § 129 Satz 1 AO berichtigt werden. Dazu gehören insbesondere Fehler bei der Auslegung oder Nichtanwendung einer Rechtsnorm oder bei der Würdigung tatsächlicher Feststellungen. Aber auch Fehler bei der Feststellung des zu ermittelnden Sachverhalts (mangelnde Sachaufklärung) oder der Erfassung des feststehenden Sachverhalts (Nichtbeachtung feststehender Tatsachen; Annahme eines in Wirklichkeit nicht gegebenen Sachverhalts) schließen eine Berichtigung nach § 129 AO aus. Es handelt sich dabei revisionsrechtlich um Rechtsfehler.

Ein mechanisches Versehen muss feststehen. Es genügt nicht, dass es bloß möglich erscheint. Vielmehr muss ein davon abzugrenzender Fehler bei der Willensbildung nach dem Gesamtergebnis des Verfahrens ausgeschlossen sein. Besteht auch nur die ernsthafte (mehr als theoretische) Möglichkeit eines solchen Fehlers, kommt eine Berichtigung nach § 129 Satz 1 AO nicht in Betracht2.

Das mechanische Versehen muss „beim Erlass eines Verwaltungsakts“ unterlaufen sein. Der zu berichtigende Bescheid muss dadurch offenbar unrichtig geworden sein. Aus dem Wortlaut der Norm leitet der Bundesfinanzhof in ständiger Rechtsprechung ab, dass es genügt, wenn sich die Unrichtigkeit bei Offenlegung des aktenkundigen Sachverhalts für jeden unvoreingenommenen (objektiven) Dritten klar und deutlich offenbart. Unerheblich ist nach ständiger höchstrichterlicher Rechtsprechung, ob der Steuerpflichtige die Unrichtigkeit allein anhand des Bescheids und der ihm vorliegenden Unterlagen erkennen konnte3.

Ob ein mechanisches Versehen oder ein die Berichtigung nach § 129 AO ausschließender Tatsachen- oder Rechtsirrtum zu der Unrichtigkeit geführt hat, ist im Wesentlichen Tatfrage und muss nach den Verhältnissen des Einzelfalls und dabei insbesondere nach der Aktenlage beurteilt werden.

Ist streitig, ob der zu berichtigende Bescheid überhaupt unrichtig ist, muss die Unrichtigkeit als solche auf der Hand liegen. Sie muss offenbar sein, d.h. sie muss sich grundsätzlich ohne Weiteres klar und deutlich aus dem Akteninhalt ergeben. Eine weitere Aufklärung des Sachverhalts, insbesondere durch Beweisaufnahme, kommt insofern allenfalls ergänzend (zur Absicherung) in Betracht, nicht jedoch zur Erforschung des Geschehenen. An der erforderlichen Offenbarkeit fehlt es jedenfalls, wenn die Unrichtigkeit des Bescheids erst durch Abfrage subjektiver Einschätzungen seinerzeit Beteiligter ermittelt werden muss. Deswegen hat der BFH die Aufhebung des Vorbehalts der Nachprüfung nicht als offenbare Unrichtigkeit angesehen und eine (erforschende) Befragung des Prüfers oder anderer Beteiligter in diesem Zusammenhang für untauglich erachtet4.

Anders ist die Sachlage, wenn die Unrichtigkeit des Bescheids offenbar ist und feststeht, z.B. weil in ihm -wie im Streitfall- ohne jede Erklärung eine deklarierte Besteuerungsgrundlage fehlt, aber streitig ist, ob beim Erlass des Verwaltungsakts ein mechanisches Versehen oder ein Denkfehler vorgekommen ist und zu der Unrichtigkeit geführt hat. Zur Beantwortung dieser für die Anwendung von § 129 Satz 1 AO ebenso entscheidenden Frage kann nicht allein auf den Akteninhalt abgestellt werden, denn die Qualität der persönlichen Fehlleistung, auf die die Rechtsprechung abstellt, ist üblicherweise in der Akte nicht dokumentiert. Lässt sich anhand des Akteninhalts nicht hinreichend sicher feststellen, ob ein mechanisches Versehen oder ob ein anderer die Anwendung von § 129 Satz 1 AO ausschließender Fehler zu der Unrichtigkeit des Bescheids geführt hat, muss das Finanzgericht den Sachverhalt umfassend aufklären5 und gegebenenfalls auch Beweis erheben6. Es hat dann auf der Grundlage des Gesamtergebnisses des Verfahrens abschließend zu würdigen, ob die Voraussetzungen von § 129 Satz 2 AO vorliegen (§ 96 Abs. 1 Satz 1 FGO).

In beiden Fallgruppen unterliegt die tatsächliche Würdigung des Finanzgericht nur eingeschränkter revisionsgerichtlicher Überprüfung. Die Prüfung beschränkt sich darauf, ob das Finanzgericht im Rahmen der Gesamtwürdigung von zutreffenden Kriterien ausgegangen ist, alle maßgeblichen Beweisanzeichen in seine Beurteilung einbezogen und dabei nicht gegen Denkgesetze oder Erfahrungssätze verstoßen hat (§ 118 Abs. 2 FGO).

Das Finanzgericht ist teilweise von anderen Rechtsgrundsätzen ausgegangen. Sein Urteil kann deshalb keinen Bestand haben.

Im Ausgangspunkt zutreffend hat das Finanzgericht den Sachverhalt durch schriftliche Befragung der Zeugin A und Einvernahme der Zeuginnen C und B umfangreich aufgeklärt. Unstreitig war der Einkommensteuerbescheid 2011 in seiner ursprünglichen und in der nach § 175 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 AO geänderten Fassung insofern offenbar unrichtig, als der vom Kläger erzielte und im Grundsatz zutreffend erklärte Gewinn aus der Veräußerung von Kapitalgesellschaftsanteilen in ihm nicht berücksichtigt ist. Die Unrichtigkeit ergibt sich insofern bei Offenlegung des gesamten Akteninhalts ohne weitere Ermittlungen klar und deutlich durch Gegenüberstellung der Steuererklärung nebst Anlagen und des Bescheidinhalts.

Streitig war, welche Art von Fehlleistung bei der Veranlagung zu dem Fehler geführt hat. Diese Frage bedurfte der Aufklärung, denn sie lässt sich -auch im Streitfall- nicht aus dem Akteninhalt beantworten. Weder ist die Abweichung im Erläuterungsteil des Bescheids begründet noch ergeben sich aus der Akte belastbare Hinweise darauf, ob die Bearbeiterin die Eintragung in Zeile 40 der Anlage G lediglich übersehen hat oder ob sie sich bei der Nichtauswertung der Anlage G (insbesondere im Hinblick auf die umfangreichen Anlagen) von fehlerbehafteten Überlegungen hat leiten lassen. Offenbar ist nach Aktenlage weder das eine noch das andere. Die Aufklärung durch Einvernahme von Zeugen war auch nicht von vornherein ungeeignet. Zu Recht hat das Finanzgericht deshalb die entsprechenden Ermittlungen durchgeführt.

Rechtsfehlerhaft hat es das Finanzgericht allerdings abgelehnt, die Beweisergebnisse auch zur Kenntnis zu nehmen und gegebenenfalls zu würdigen. Sein Vorgehen, sich aufgrund des Akteninhalts von einem mechanischen Versehen überzeugt zu zeigen und dabei die erhobenen Beweise einfach auszublenden, hat weder rechtlich noch tatsächlich eine Grundlage.

Soweit das Finanzgericht angenommen hat, die Veranlagungsstelle könne bei der mechanischen Übertragung der Erklärungsdaten in das Datenerfassungsformular, z.B. durch einen Telefonanruf, gestört worden sein, infolgedessen die Arbeit an unzutreffender Stelle fortgesetzt und die vollständige Auswertung der Anlage G unerkannt unterlassen haben, fehlt es hierzu an tatsächlichen Feststellungen. Solche Feststellungen sind indes nicht entbehrlich. Auch der Anscheinsbeweis muss von feststehenden Anknüpfungstatsachen ausgehen. Hätte das Finanzgericht eine konkrete Störung im Bearbeitungsablauf festgestellt, hätte es möglicherweise im Wege des Anscheinsbeweises auf die Ursächlichkeit dieser Störung für das streitige Unterlassen schließen können. Ohne solche Anknüpfungstatsachen hat der Schluss des Finanzgericht nur eine hypothetische Grundlage. Diese mag zwar nach der Lebenserfahrung plausibel erscheinen. Das genügt aber nicht für die Anwendung von § 129 Satz 1 AO. Als bloße Hypothese lässt sie ein mechanisches Versehen lediglich möglich erscheinen. Ein Versehen im Bereich der Willensbildung wird dadurch aber nicht ausgeschlossen.

Dafür genügt auch nicht die Behauptung des Finanzgericht, ein anderer Ablauf wäre allenfalls theoretisch denkbar. Unerheblich ist in diesem Zusammenhang, wie die Gefahr einzuschätzen ist, dass ein Finanzbeamter des gehobenen Dienstes nach bestandener Laufbahnprüfung die gesonderte Feststellung eines Gewinns aus der Veräußerung von Kapitalgesellschaftsanteilen (§ 17 EStG) für erforderlich hält. Zu der Behauptung, dass ein abweichendes Geschehen lediglich theoretisch denkbar wäre, konnte das Finanzgericht nur gelangen, indem es die Aussage der Zeugin A bei seiner Entscheidung (rechtsfehlerhaft) ausgeblendet hat. In ihrer schriftlichen Zeugenaussage hat die Zeugin A eingeräumt, dass sie die Anlagen zur Anlage G nicht gelesen haben kann, weil sie sonst bemerkt hätte, dass diese nicht den laufenden Beteiligungsverlust, sondern einen Veräußerungsgewinn betrafen. Zur Erklärung dieses Versäumnisses hat sie die Vermutung geäußert, sie habe die Anlagen aufgrund der Übereinstimmung der Buchstaben „XY“ (wohl) voreilig dem Vorgang „laufender Beteiligungsverlust“ zugeordnet und (bewusst) nicht zur Kenntnis genommen, weil sie den Feststellungsbescheid habe abwarten wollen. Diese Hypothese, die sich die Kläger zu eigen gemacht haben, ist nach Aktenlage nicht nur theoretisch denkbar, sondern ebenfalls plausibel.

Dieser Geschehensablauf würde eine Berichtigung nach § 129 Satz 1 AO ausschließen. Zwar wäre auch bei diesem Geschehen die fehlende Übernahme der Angabe aus der Steuererklärung ein unbewusstes Versehen; Anhaltspunkte für eine dahin gehende bewusste Entscheidung gibt es nicht. Darauf kommt es jedoch nicht an, wenn das Finanzamt im selben Zusammenhang den feststehenden Akteninhalt (bewusst) nicht zur Kenntnis nimmt und wenn sicher anzunehmen ist, dass bei gebotener Kenntnisnahme das unbewusste Versehen (fehlende Übertragung) entdeckt und vermieden worden wäre. Das ist hier der Fall. Dann ist nicht allein das unbewusste Versehen für die Unrichtigkeit des Bescheids ursächlich geworden, sondern zugleich ein die Willensbildung betreffender Fehler bei der (einwandfreien) Erfassung des Akteninhalts. Dies schließt eine Berichtigung des Bescheids nach § 129 Satz 1 AO aus.

Die Sache ist spruchreif. Der BFH entscheidet auf der Grundlage der tatsächlichen Feststellungen, die das Finanzgericht getroffen hat, selbst und gibt der Klage statt (§ 126 Abs. 3 Satz 1 Nr. 1 FGO). Zu Recht hat das Finanzgericht angenommen, dass sich das Geschehen nicht mehr hinreichend sicher aufklären lasse. Dies geht zu Lasten des feststellungsbelasteten Finanzamt.

Eine weitere Sachaufklärung erscheint ausgeschlossen. Das Finanzgericht hat den Sachverhalt umfangreich und nach menschlichem Ermessen vollständig aufgeklärt. Weitere Klärung wäre auch durch die von den Klägern beantragte Vernehmung der Zeugin A nicht zu erwarten. Bereits in ihren schriftlichen Bekundungen hat die Zeugin erkennbar nicht aus konkreter Erinnerung geschöpft, sondern in Bezug auf die Fehlerursache lediglich anhand des Akteninhalts Mutmaßungen angestellt. Entsprechendes gilt für die Zeuginnen C und B. Eine weitere Sachaufklärung ist aber auch nicht erforderlich, denn die Kläger müssen nicht beweisen, dass ein die Anwendung von § 129 Satz 1 AO ausschließender Fehler zu der Unrichtigkeit des Bescheids geführt hat.

Eine Zurückverweisung (§ 126 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 FGO) kommt nicht in Betracht. Zwar obliegt die Würdigung des Ergebnisses der Beweisaufnahme dem Finanzgericht als Tatsacheninstanz. Hat das Finanzgericht wie im Streitfall die Würdigung des Beweisergebnisses unterlassen, weil es rechtsfehlerhaft von der Unerheblichkeit der Beweiserhebung ausgegangen ist, muss der BFH grundsätzlich zurückverweisen. Insofern gilt nichts anderes, als wenn der BFH die Beweiswürdigung des Finanzgericht wegen eines Rechtsfehlers aufhebt. Indes bedarf es im Streitfall keiner Würdigung der Beweise; es genügt, das Beweisergebnis zur Kenntnis zu nehmen. Daran ist der BFH nicht gehindert. Er muss sich keine Überzeugung davon bilden, dass die Darstellung der Zeugin A den Tatsachen entspricht. Es genügt, dass sie möglich erscheint. Dies kann bejaht werden, ohne dass es auf die Glaubhaftigkeit der Bekundungen oder die Glaubwürdigkeit der Zeugin ankommt. Danach erscheinen sowohl die Hypothese des Finanzamt (Störung bei der Datenerfassung führt zu einem mechanischen Versehen) als auch die -von wem auch immer geäußerte- Hypothese der Kläger (fehlerhafte, aber bewusste Zuordnung der den Veräußerungsgewinn betreffenden Anlagen zum laufenden Verlust führt zu mangelnder Erfassung des Akteninhalts und verhindert, dass die Sachbearbeiterin den Fehler unvollständiger Erfassung der Anlage G erkennt und korrigiert) gleichermaßen plausibel und nicht bloß theoretisch denkbar. Ein die Anwendung von § 129 Satz 1 AO ausschließender Fehler bei der Willensbildung ist damit nicht ausgeschlossen. Dies geht zu Lasten des Finanzamt.

Auf die weitere Frage, ob eine Berichtigung des Bescheids auch deshalb nicht in Betracht kommt, weil der erklärte Veräußerungsgewinn vom Kläger offenbar unrichtig ermittelt worden ist und die Berichtigung eine weitere Sachaufklärung erfordert hätte, kommt es nicht mehr an, weil schon die Grundvoraussetzungen für eine Berichtigung nach § 129 Satz 1 AO nicht vorliegen.

Bundesfinanzhof, Urteil vom 10. März 2020 – IX R 29/18

  1. Thür. FG, Urteil vom 31.01.2018 – 3 K 480/17[]
  2. ständige Rechtsprechung, zuletzt BFH, Urteil vom 10.12.2019 – IX R 23/18, DStR 2020, 289[]
  3. vgl. BFH, Urteil vom 07.12.2013 – IV R 13/11, BFH/NV 2014, 657, m.w.N.[]
  4. BFH, Urteil vom 29.01.2003 – I R 20/02, BFH/NV 2003, 1139[]
  5. BFH, Urteil vom 30.11.1989 – IV R 76/88, BFH/NV 1991, 457[]
  6. vgl. auch FG Hamburg, Urteil vom 25.10.2013 – 5 K 120/11 rechtskräftig[]