Für den Eintritt einer Aufwärtsabfärbung gemäß § 15 Abs. 3 Nr. 1 Satz 1 Alternative 2, Satz 2 Alternative 2 EStG kommt es nur auf den Bezug gewerblicher Beteiligungseinkünfte, nicht aber auf deren Höhe oder darauf an, ob ein zugewiesener Verlust der Ausgleichsbeschränkung des § 15a Abs. 1 EStG unterliegt.
§ 15 Abs. 3 Nr. 1 Satz 1 Alternative 2 und Satz 2 Alternative 2 EStG sind in einkommensteuerrechtlicher Hinsicht auch ohne Berücksichtigung einer Geringfügigkeitsgrenze, bis zu deren Erreichen die gewerblichen Beteiligungseinkünfte nicht auf die übrigen Einkünfte abfärben, verfassungsgemäß1. § 52 Abs. 23 Satz 1 EStG, der die rückwirkende Geltung des § 15 Abs. 3 Nr. 1 Satz 2 Alternative 2 EStG anordnet, verstößt nach Ansicht des Bundesfinanzhofs nicht gegen das verfassungsrechtliche Rückwirkungsverbot.
In dem hier vom Bundesfinanzhof entschiedenen Fall hatte eine GbR geklagt, die Einkünfte aus der Vermietung eines Objekts in A-Stadt erzielt. Die GbR ist ferner seit dem 01.12.2003 mit 50.000 € (entspricht seit 2015 einer Quote von 4,24 %) an der „… GmbH & Co. KG“ (KG), die Einkünfte aus Gewerbebetrieb erzielt, beteiligt. Die in dem bestandskräftigen Bescheid über die gesonderte und einheitliche Feststellung von Besteuerungsgrundlagen (Gewinnfeststellungsbescheid) der KG für das Jahr 2017 (Streitjahr) vom 06.04.2020 ausgewiesenen Einkünfte aus Gewerbebetrieb wurden der GbR in Höhe von ./.05.481, 13 € zugerechnet. Ausweislich des mit dem Gewinnfeststellungsbescheid 2017 verbundenen Bescheids über den verrechenbaren Verlust nach § 15a Abs. 4 des Einkommensteuergesetzes -EStG- (Verlustfeststellungsbescheid) 2017 handelt es sich hierbei um einen verrechenbaren Verlust im Sinne des § 15a EStG, sodass im Gewinnfeststellungsbescheid 2017 der im Folgebescheid anzusetzende laufende steuerpflichtige Gewinn/Verlust der GbR mit 0 € ebenfalls bestandskräftig festgestellt wurde.
Aufgrund der von der KG bezogenen Beteiligungseinkünfte qualifizierte das Finanzamt die Einkünfte der GbR aus Vermietung und Verpachtung seit 2006 in Einkünfte aus Gewerbebetrieb um, so auch im Gewinnfeststellungsbescheid für das Streitjahr vom 14.08.2019. Der gegen diesen Bescheid gerichtete Einspruch der GbR blieb ohne Erfolg. Die nachfolgende Klage wies das Finanzgericht Münster unter Verweis auf das Urteil des Bundesfinanzhofs vom 06.06.20192 ab3. Die hiergegen gerichtete Revision der GbR wies der Bundesfinanzhof als unbegründet zurück. Das Finanzgericht habe die Klage zutreffend als unbegründet abgewiesen. Es habe ohne Rechtsfehler angenommen, dass die GbR im Streitjahr als Mitunternehmerin der KG gemäß § 15 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 Satz 1 EStG Einkünfte aus Gewerbebetrieb bezogen habe und diese Beteiligungseinkünfte dazu geführt haben, dass die von der GbR unternommene vermögensverwaltende Tätigkeit nach § 15 Abs. 3 Nr. 1 Satz 1 Alternative 2, Satz 2 Alternative 2 EStG in vollem Umfang als Gewerbebetrieb gelte. Weder die Regelung in § 15 Abs. 3 Nr. 1 Satz 1 Alternative 2 beziehungsweise Satz 2 Alternative 2 EStG noch die Anordnung der rückwirkenden Anwendung des § 15 Abs. 3 Nr. 1 Satz 2 Alternative 2 EStG im Streitjahr durch § 52 Abs. 23 Satz 1 EStG sei verfassungswidrig:
Die im Gewinnfeststellungsbescheid 2017 erfolgte Qualifizierung der Einkünfte der GbR als solche aus Gewerbebetrieb ist -wie das Finanzgericht zutreffend erkannt hat- nicht zu beanstanden. Die Voraussetzungen des § 15 Abs. 3 Nr. 1 Satz 1 Alternative 2, Satz 2 Alternative 2 EStG (sogenannte Aufwärtsabfärbung) liegen vor.
Nach § 15 Abs. 3 Nr. 1 Satz 1 EStG i.d.F. des Gesetzes zur weiteren steuerlichen Förderung der Elektromobilität und zur Änderung weiterer steuerlicher Vorschriften vom 12.12.20194 -WElektroMobFördG- gilt die mit Einkünfteerzielungsabsicht unternommene Tätigkeit einer Personengesellschaft in vollem Umfang als Gewerbebetrieb, wenn die Gesellschaft auch eine Tätigkeit im Sinne des § 15 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 EStG ausübt (Alternative 1) oder gewerbliche Einkünfte im Sinne des § 15 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 EStG bezieht (Alternative 2). Dies gilt unabhängig davon, ob aus der Tätigkeit im Sinne des § 15 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 EStG ein Gewinn oder Verlust erzielt wird oder ob die gewerblichen Einkünfte im Sinne des § 15 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 EStG positiv oder negativ sind (§ 15 Abs. 3 Nr. 1 Satz 2 EStG).
Mit der am 18.12.2019 in Kraft getretenen Neuregelung (vgl. Art. 39 Abs. 1 WElektroMobFördG) des § 15 Abs. 3 Nr. 1 EStG hat der Gesetzgeber zum einen in dem neuen Satz 1 Alternative 1 den bis dahin in § 15 Abs. 3 Nr. 1 Alternative 1 EStG enthaltenen Zitierfehler korrigiert (statt „… im Sinne des Absatzes 1 Nummer 1 …“; nun „… im Sinne des Absatzes 1 Satz 1 Nummer 1 …“), zum anderen die Vorschrift um einen neuen Satz 2 ergänzt. Der neue Satz 1 ist als bloße redaktionelle Klarstellung ohne Weiteres rückwirkend anwendbar5. § 15 Abs. 3 Nr. 1 Satz 1 Alternative 2 EStG enthält keine inhaltliche Änderung gegenüber der Vorgängerregelung in § 15 Abs. 3 Nr. 1 Alternative 2 EStG, die wiederum inhaltlich § 15 Abs. 3 Nr. 1 EStG nach Einfügung der Alternative 2 durch das Jahressteuergesetz 2007 vom 13.12.20066 entspricht. Die zu dieser Regelung entwickelten Grundsätze gelten daher unverändert fort7. Der neue Satz 2 Alternative 2 des § 15 Abs. 3 Nr. 1 EStG ist gemäß § 52 Abs. 23 Satz 1 EStG auch für Veranlagungszeiträume vor 2019 -und damit auch im Streitjahr- anwendbar.
Ausgehend von diesen gesetzlichen Grundlagen ist das Finanzgericht zutreffend zu dem Ergebnis gelangt, dass die von der GbR bezogenen Beteiligungseinkünfte im Streitjahr zu einer Aufwärtsabfärbung gemäß § 15 Abs. 3 Nr. 1 Satz 1 Alternative 2 und Satz 2 Alternative 2 EStG geführt haben.
Die GbR, die als GbR -und damit als „andere Personengesellschaft“- der Regelung des § 15 Abs. 3 Nr. 1 Satz 1 EStG unterfällt8, hat im Streitjahr mit Einkünfteerzielungsabsicht Grundbesitz vermietet und somit eine vermögensverwaltende Tätigkeit ausgeübt. Dies ist auch zwischen den Beteiligten unstreitig und bedarf daher keiner weiteren Erläuterung.
Die GbR hat im Streitjahr aus ihrer Beteiligung an der KG als Mitunternehmerin gewerbliche Einkünfte gemäß § 15 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 EStG bezogen.
Für die Abfärbewirkung reicht es nicht aus, dass eine an einer weiteren Personengesellschaft beteiligte Personengesellschaft als Mitunternehmerin im Sinne von § 15 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 EStG anzusehen ist. Vielmehr wird auch ein „Bezug“ von Gewinnanteilen im Sinne des § 15 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 EStG vorausgesetzt. Deshalb genügt allein das Vorliegen einer Mitunternehmerstellung nicht, um die Abfärbewirkung des § 15 Abs. 3 Nr. 1 Satz 1 Alternative 2 EStG eintreten zu lassen9. Das Merkmal des „Bezugs“ erfordert keinen Zufluss der Mittel. Als Bezug der Beteiligungseinkünfte ist die Gewinnzurechnung am Ende des Wirtschaftsjahres anzusehen. Dementsprechend sind die in § 15 Abs. 3 Nr. 1 Satz 1 Alternative 2 EStG genannten Einkünfte im Sinne von § 15 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 EStG in dem Veranlagungs- beziehungsweise Feststellungszeitraum bezogen, in dem sie dem Mitunternehmer nach den Gewinnermittlungsvorschriften zuzurechnen sind10.
Danach hat die GbR im Streitjahr Gewinnanteile im Sinne des § 15 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 EStG von der KG bezogen. Dies ist durch den bestandskräftigen Gewinnfeststellungsbescheid 2017 der KG vom 06.04.2020 (Grundlagenbescheid) mit bindender Wirkung für den Gewinnfeststellungsbescheid der GbR (Folgebescheid) festgestellt (§ 182 Abs. 1 Satz 1 AO).
Dass der GbR im Gewinnfeststellungsbescheid 2017 der KG vom 06.04.2020 negative Einkünfte in Höhe von 5.481, 13 € zugerechnet werden und dass es sich hierbei -ausweislich des mit dem Gewinnfeststellungsbescheid verbundenen Verlustfeststellungsbescheids 2017- um lediglich verrechenbare Verluste handelt, sodass sich ein -nach Anwendung des § 15a EStG- im Folgebescheid anzusetzender laufender steuerpflichtiger Gewinn/Verlust der GbR von 0 € ergibt, steht dem nicht entgegen.
Nach der Rechtsprechung des Bundesfinanzhofs führt einkommensteuerrechtlich jede Beteiligung, aus der die Gesellschaft gewerbliche Einkünfte bezieht, zu einer Umqualifizierung aller weiteren Einkünfte dieser Gesellschaft in solche aus Gewerbebetrieb11. Eine (ungeschriebene) sogenannte Bagatellgrenze gilt -anders als bei der sogenannten Seitwärtsabfärbung (hierzu z.B. BFH, Urteil vom 30.06.2022 – IV R 42/19, BFHE 278, 42, BStBl II 2023, 118)- nicht12.
Dementsprechend führt auch der Bezug geringfügiger Beteiligungseinkünfte zur Aufwärtsabfärbung. Ebenfalls ohne Bedeutung für die Abfärbewirkung ist die Höhe der Beteiligung, aus der die Beteiligungseinkünfte bezogen werden. Eine Aufwärtsabfärbung tritt zudem auch ein, wenn die bezogenen Beteiligungseinkünfte negativ sind13 und -konsequenterweise- auch dann, wenn sich ausnahmsweise (zufällig) Beteiligungseinkünfte in rechnerischer Höhe von 0 € ergeben.
An dieser Rechtsprechung hält der Bundesfinanzhof fest, zumal der durch das Gesetz zur weiteren steuerlichen Förderung der Elektromobilität und zur Änderung weiterer steuerlicher Vorschriften eingefügte Satz 2 Alternative 2 des § 15 Abs. 3 Nr. 1 EStG nunmehr ausdrücklich auch für den Streitzeitraum (§ 52 Abs. 23 Satz 1 EStG) regelt, dass die Aufwärtsabfärbung unabhängig davon eintritt, ob die Beteiligungseinkünfte positiv oder negativ sind.
Danach kommt es für den Eintritt der Aufwärtsabfärbung gemäß § 15 Abs. 3 Nr. 1 Satz 1 Alternative 2 EStG nur auf den Bezug von Beteiligungseinkünften, nicht aber auf deren Höhe an.
Auch der Umstand, dass es sich bei den der GbR zugerechneten Beteiligungseinkünften um verrechenbare Verluste gemäß § 15a EStG handelt, die im Streitjahr keine Auswirkungen auf die Höhe des laufenden Gesamthandsgewinns der GbR haben, steht der Aufwärtsabfärbung nicht entgegen. Ein Bezug von Beteiligungseinkünften im Sinne des § 15 Abs. 3 Nr. 1 EStG liegt auch dann vor, wenn es sich um lediglich verrechenbare Verluste im Sinne des § 15a EStG handelt.
Die Verlustausgleichsbeschränkung des § 15a Abs. 1 Satz 1 EStG setzt -wie die Formulierung „Der einem Kommanditisten zuzurechnende Anteil am Verlust der Kommanditgesellschaft“ zeigt- nach § 15 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 EStG zuzurechnende negative Einkünfte voraus14. Dementsprechend bewirkt das aus § 15a EStG resultierende Ausgleichs- und Abzugsverbot keine Änderung der (im Gewinnfeststellungsbescheid erfolgten) Zuweisung des Verlustanteils, sondern eine Umwandlung des Verlustanteils in einen verrechenbaren Verlust, der einer Verwertungssperre unterliegt15. Hieraus folgt zwar einerseits, dass verrechenbare Verluste gemäß § 15a EStG für den entsprechenden Mitunternehmer zunächst nicht nutzbar sind. Eine Änderung der Zurechnung der gewerblichen Beteiligungseinkünfte zur GbR ergibt sich hieraus jedoch nicht, sodass ein Bezug im Sinne des § 15 Abs. 3 Nr. 1 Satz 1 Alternative 2 EStG gegeben ist. Maßgebend für die Aufwärtsabfärbung ist, dass der GbR aufgrund ihrer mitunternehmerischen Beteiligung an der KG ein Gewinnanteil zugerechnet worden ist und die KG gewerbliche Einkünfte erzielt. Ohne Belang ist -wie dargelegt- nicht nur dessen Höhe, sondern auch, ob ein zugewiesener Verlust der KG sofort abziehbar ist oder zunächst einer Verwertungssperre unterliegt.
§ 15 Abs. 3 Nr. 1 Satz 1 Alternative 2 und Satz 2 Alternative 2 EStG sowie § 52 Abs. 23 Satz 1 EStG sind nicht verfassungswidrig.
§ 15 Abs. 3 Nr. 1 Satz 1 Alternative 2 EStG ist in einkommensteuerrechtlicher Hinsicht auch ohne Berücksichtigung einer Geringfügigkeitsgrenze, bis zu deren Erreichen die gewerblichen (Beteiligungs-)Einkünfte nicht auf die übrigen Einkünfte der Gesellschaft abfärben, verfassungsgemäß. Die hiergegen erhobenen Einwendungen der GbR führen zu keinem anderen Ergebnis16. Dies gilt auch insoweit, als der neue Satz 2 Alternative 2 des § 15 Abs. 3 Nr. 1 EStG -im Einklang mit der Rechtsprechung des Bundesfinanzhofs2- nunmehr ausdrücklich regelt, dass eine Aufwärtsabfärbung unabhängig davon eintritt, ob die gewerblichen Einkünfte im Sinne des § 15 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 EStG positiv oder negativ sind. Entgegen der von der GbR in der mündlichen Verhandlung vertretenen Auffassung ergeben sich aus den Ausführungen des Bundesverfassungsgerichts im Beschluss vom 28.11.202317 keine neuen Gesichtspunkte, die eine andere Entscheidung geboten erscheinen lassen.
Die in § 52 Abs. 23 Satz 1 EStG i.d.F. des WElektroMobFördG angeordnete rückwirkende Geltung des § 15 Abs. 3 Nr. 1 Satz 2 Alternative 2 EStG, die dazu führt, dass diese Regelung auch im Streitjahr Anwendung findet, unterliegt ebenfalls keinen verfassungsrechtlichen Bedenken. Das grundsätzliche Verbot echt rückwirkender Gesetze ist durch eine formal rückwirkende Norm nur dann betroffen, wenn diese Vorschrift konstitutiven Charakter hat, die Rechtslage also nicht nur klarstellt18. Dies ist in Bezug auf § 15 Abs. 3 Nr. 1 Satz 2 Alternative 2 EStG nicht der Fall. Die Neuregelung führt nicht zu einer Änderung der Rechtslage.
Im Steuerrecht liegt eine echte Rückwirkung beziehungsweise eine Rückbewirkung von Rechtsfolgen nur vor, wenn der Gesetzgeber eine bereits entstandene Steuerschuld nachträglich abändert. Umgekehrt bedeutet dies für den Bereich des Einkommensteuerrechts, dass die Änderung von Normen mit Wirkung für den laufenden Veranlagungszeitraum jedenfalls in formaler Hinsicht der Kategorie der unechten Rückwirkung beziehungsweise der tatbestandlichen Rückanknüpfung zuzuordnen ist; denn nach § 38 AO i.V.m. § 36 Abs. 1 EStG entsteht die Einkommensteuer erst mit dem Ablauf des Veranlagungszeitraums, das heißt des Kalenderjahres (§ 25 Abs. 1 EStG, vgl. z.B. BVerfG, Beschluss vom 12.07.2023 – 2 BvR 482/14, Rz 33, m.w.N.).
Die verfassungsrechtlichen Grundsätze des Verbots von Gesetzen mit echter Rückwirkung beanspruchen Geltung, wenn eine Regelung -anders als in ihrer Begründung angenommen- aus verfassungsrechtlicher Sicht gegenüber der alten Rechtslage als konstitutive Änderung zu behandeln ist. Ob eine rückwirkende Gesetzesänderung gegenüber dem alten Recht deklaratorisch oder konstitutiv wirkt, hängt vom Inhalt des alten und des neuen Rechts ab, der -abgesehen von eindeutigen Gesetzesformulierungen- zumeist erst durch Auslegung ermittelt werden muss. Die in der Begründung eines Gesetzentwurfs vertretene Auffassung, die Vorschrift habe lediglich klarstellenden Charakter, ist für die Gerichte nicht verbindlich. Sie schränkt weder die Kontrollrechte und -pflichten der Fachgerichte und des Bundesverfassungsgerichts ein, noch relativiert sie die für sie maßgeblichen verfassungsrechtlichen Maßstäbe19.
Der Wunsch des Gesetzgebers, eine Rechtslage rückwirkend klarzustellen, verdient grundsätzlich nur in den durch das Rückwirkungsverbot vorgegebenen Grenzen verfassungsrechtliche Anerkennung. Anderenfalls könnte der Gesetzgeber auch jenseits dieser verfassungsrechtlichen Bindung einer Rechtslage unter Berufung auf ihre Klärungsbedürftigkeit ohne Weiteres die von ihm für richtig gehaltene Deutung geben, ohne dass von den dafür letztlich zuständigen Gerichten geklärt wäre, ob dies der tatsächlichen Rechtslage entsprochen hat. Eine von Vertrauensschutzerfordernissen weitgehend freigestellte Befugnis zur rückwirkenden Klarstellung des geltenden Rechts eröffnete dem Gesetzgeber den weitreichenden Zugriff auf zeitlich abgeschlossene Rechtslagen, ließe im Nachhinein politischen Opportunitätserwägungen Raum, die das einfache Recht zum Zeitpunkt der später als korrekturbedürftig empfundenen Auslegung nicht prägten, und beeinträchtigte so das Vertrauen in die Stabilität des Rechts erheblich20.
Eine rückwirkende Klärung der Rechtslage durch den Gesetzgeber ist daher in jedem Fall als konstitutiv rückwirkende Regelung anzusehen, wenn der Gesetzgeber damit nachträglich einer höchstrichterlich geklärten Auslegung des Gesetzes den Boden zu entziehen sucht. Der Gesetzgeber hat es für die Vergangenheit grundsätzlich hinzunehmen, dass die Gerichte das damals geltende Gesetzesrecht in den verfassungsrechtlichen Grenzen richterlicher Gesetzesauslegung und Rechtsfortbildung verbindlich auslegen. Entspricht diese Auslegung nicht oder nicht mehr dem politischen Willen des Gesetzgebers, kann er das Gesetz für die Zukunft ändern21.
Danach greifen die verfassungsrechtlichen Grundsätze des Verbots von Gesetzen mit echter Rückwirkung vorliegend nicht ein, da die Regelung in § 15 Abs. 3 Nr. 1 Satz 2 Alternative 2 EStG aus verfassungsrechtlicher Sicht gegenüber der alten Rechtslage nicht als konstitutive Änderung zu behandeln ist.
Zwar liegt in formaler Hinsicht eine echte Rückwirkung vor, da die mit Wirkung zum 18.12.2019 in Kraft getretene Neuregelung in § 15 Abs. 3 Nr. 1 Satz 2 Alternative 2 EStG gemäß § 52 Abs. 23 Satz 1 EStG auch für Veranlagungszeiträume vor 2019 -und damit auch im Streitjahr- gilt.
Materiell-rechtlich betrachtet handelt es sich jedoch um eine deklaratorische Ergänzung des Gesetzes. Während der Gesetzgeber mit der Einführung des § 15 Abs. 3 Nr. 1 Satz 2 Alternative 1 EStG eine auch materiell-rechtlich rückwirkende Regelung geschaffen hat22, kommt § 15 Abs. 3 Nr. 1 Satz 2 Alternative 2 EStG lediglich deklaratorische Wirkung zu23. Wie dargelegt, ging die BFH-Rechtsprechung2 bereits vor der Einfügung des Satzes 2 Alternative 2 des § 15 Abs. 3 Nr. 1 EStG davon aus, dass eine Aufwärtsabfärbung unabhängig davon eintritt, ob die Beteiligungseinkünfte positiv oder negativ sind. Insoweit hat der Gesetzgeber die Grundsätze der bisherigen Rechtsprechung des Bundesfinanzhofs zur Aufwärtsabfärbung in den Gesetzestext übernommen, und zwar ohne damit auf das Merkmal des „Bezugs“ der Beteiligungseinkünfte zu verzichten. Hierzu bestand auch kein Anlass, denn aus diesem Merkmal lassen sich keine Aussagen zur Höhe der Beteiligungseinkünfte herleiten10. Aus der Gesetzesbegründung zur Einfügung des § 15 Abs. 3 Nr. 1 Satz 2 EStG, die sich lediglich auf die durch das BFH-Urteil vom 12.04.201824 veranlasste Einfügung des § 15 Abs. 3 Nr. 1 Satz 2 Alternative 1 EStG bezieht, kann ebenfalls nicht entnommen werden, dass der Gesetzgeber auf das Merkmal des „Bezugs“ verzichten oder aber in anderer Weise die bestehende Rechtslage ändern wollte.
Bundesfinanzhof, Urteil vom 11. Juli 2024 – IV R 18/22
- Anschluss an BFH, Urteile vom 06.06.2019 – IV R 30/16, BFHE 265, 157, BStBl II 2020, 649; und vom 05.09.2023 – IV R 24/20, BFHE 281, 374[↩]
- BFH, Urteil vom 06.06.2019 – IV R 30/16, BFHE 265, 157, BStBl II 2020, 649[↩][↩][↩]
- FG Münster, Urteil vom 13.05.2022 – 15 K 26/20 E, F[↩]
- BGBl I 2019, 2451[↩]
- vgl. BFH, Urteil vom 30.06.2022 – IV R 42/19, BFHE 278, 42, BStBl II 2023, 118, Rz 30[↩]
- BGBl I 2006, 2878[↩]
- BFH, Urteil vom 05.09.2023 – IV R 24/20, BFHE 281, 374, Rz 55[↩]
- vgl. z.B. BFH, Urteil vom 05.09.2023 – IV R 24/20, BFHE 281, 374, Rz 59, m.w.N.[↩]
- vgl. BFH, Urteil vom 26.06.2014 – IV R 5/11, BFHE 246, 319, BStBl II 2014, 972, Rz 20[↩]
- vgl. BFH, Urteil vom 26.06.2014 – IV R 5/11, BFHE 246, 319, BStBl II 2014, 972, Rz 21[↩][↩]
- BFH, Urteil vom 06.06.2019 – IV R 30/16, BFHE 265, 157, BStBl II 2020, 649, Rz 19[↩]
- BFH, Urteile vom 06.06.2019 – IV R 30/16, BFHE 265, 157, BStBl II 2020, 649; vom 05.09.2023 – IV R 24/20, BFHE 281, 374[↩]
- vgl. BFH, Urteil vom 06.06.2019 – IV R 30/16, BFHE 265, 157, BStBl II 2020, 649; anders zur Seitwärtsabfärbung noch BFH, Urteil vom 12.04.2018 – IV R 5/15, BFHE 261, 157, BStBl II 2020, 118, inzwischen allerdings aufgegeben durch BFH, Urteil vom 30.06.2022 – IV R 42/19, BFHE 278, 42, BStBl II 2023, 118[↩]
- vgl. z.B. auch Krumm in Kirchhof/Seer, EStG, 23. Aufl., § 15a Rz 7[↩]
- vgl. BFH, Urteil vom 24.04.2024 – IV R 27/21, zur amtlichen Veröffentlichung bestimmt, Rz 40[↩]
- vgl. hierzu zuletzt BFH, Urteil vom 05.09.2023 – IV R 24/20, BFHE 281, 374, Rz 61, m.w.N.[↩]
- BVerfG, Beschluss vom 28.11.2023 – 2 BvL 8/13, BGBl 2024 – I Nr. 47, Rz 160, 163, 174, 176, 178[↩]
- vgl. BVerfG, Beschlüsse vom 17.12.2013 – 1 BvL 5/08, BVerfGE 135, 1, Rz 44 ff.; vom 12.07.2023 – 2 BvR 482/14, Rz 33 ff.[↩]
- z.B. BVerfG, Beschluss vom 12.07.2023 – 2 BvR 482/14, Rz 34, m.w.N.[↩]
- z.B. BVerfG, Beschluss vom 12.07.2023 – 2 BvR 482/14, Rz 35, m.w.N.[↩]
- z.B. BVerfG, Beschluss vom 12.07.2023 – 2 BvR 482/14, Rz 36, m.w.N.[↩]
- vgl. hierzu BFH, Urteil vom 30.06.2022 – IV R 42/19, BFHE 278, 42, BStBl II 2023, 118[↩]
- vgl. auch Bolk, Bilanzierung und Besteuerung der Personengesellschaft und ihrer Gesellschafter, 5. Aufl., Tz 1.02.2, Rz 1.70, S. 25[↩]
- BFH, Urteil vom 12.04.2018 – IV R 5/15, BFHE 261, 157, BStBl II 2020, 118[↩]