Gibt der Steuerpflichtige aufgrund der unklaren Bescheinigung eines Versorgungswerks in seiner Einkommensteuererklärung Altersvorsorgeaufwendungen in einer Höhe an, die das Doppelte der tatsächlichen Aufwendungen beträgt, so ist das Finanzamt nach Kenntnisnahme von der tatsächlichen Höhe der Aufwendungen auch dann nicht durch die Grundsätze von Treu und Glauben an einer auf § 173 Abs. 1 Nr. 1 AO gestützten Änderung des Bescheids gehindert, wenn ihm seinerseits eine Verletzung von Ermittlungspflichten zur Last fällt, es die Angaben in der Steuererklärung also zum Anlass einer Nachfrage beim Steuerpflichtigen hätte nehmen müssen.
Im Anwendungsbereich der Grundsätze von Treu und Glauben kann ein Steuerpflichtiger seine verfahrensrechtliche Position nicht dadurch verbessern, dass er seine Steuererklärung durch einen Steuerberater fertigen lässt und dieser vorbereitende Tätigkeiten seinem Büropersonal überträgt.
Weil für die Feststellung einer leichtfertigen Steuerverkürzung auch die persönlichen Fähigkeiten der als Täter in Betracht kommenden Person maßgebend sind, muss das FG diese Person jedenfalls in Grenzfällen persönlich anhören, wenn sich nicht bereits aus dokumentierten Äußerungen, Urkunden oder sonstigen Indizien die Leichtfertigkeit eindeutig ergibt.
In dem hier vom Bundesfinanzhof entschiedenen AdV-Fall erzielte der Antragsteller in den Streitjahren 2006 und 2007 als angestellter Arzt Einkünfte aus nichtselbständiger Arbeit, ferner in geringem Umfang Einkünfte aus freiberuflicher Tätigkeit. Er ist Mitglied eines berufsständischen Versorgungswerks. Zu den Pflichtbeiträgen, die der Höhe nach denen zur gesetzlichen Rentenversicherung entsprechen, zahlt der Arbeitgeber aufgrund gesetzlicher Regelungen (in den Streitjahren § 172 Abs. 2 SGB VI; seit 1. Januar 2012 § 172a SGB VI) einen hälftigen Zuschuss.
In den vom Arbeitgeber des Antragstellers erstellten Lohnsteuerbescheinigungen für die Streitjahre waren die Beiträge zur Altersvorsorge –gesondert nach Arbeitnehmeranteil und Arbeitgeberzuschuss– angegeben. Dass es sich um Beiträge an ein Versorgungswerk handelte, war aus den Lohnsteuerbescheinigungen nicht erkennbar.
Zusätzlich stellte das Versorgungswerk jeweils einen „Jahreskontoausweis“ aus. Dieser lautete für das Streitjahr 2007: „wir dürfen Ihnen mit Kontostand vom 31.12.2007 die auf Ihrem Konto im Jahr 2007 bei …
Die Antragsteller reichten ihre Einkommensteuererklärungen für 2006 und 2007, die durch eine Steuerberatungs- und Wirtschaftsprüfungsgesellschaft vorbereitet worden waren, jeweils im Folgejahr beim Finanzamt ein. Sie gaben in den Zeilen 61 und 65 der dritten Seite des Mantelbogens die aus den Lohnsteuerbescheinigungen ersichtlichen Arbeitnehmer- und Arbeitgeberbeiträge an. Zusätzlich trugen sie in der Zeile 63 die in den Jahreskontoausweisen des Versorgungswerks genannten Beträge ein. Ihrer Einkommensteuererklärung 2007 fügten sie den entsprechenden Jahreskontoausweis bei; ob dies auch für das Jahr 2006 geschehen ist, ist zwischen den Beteiligten streitig.
Die Einkommensteuererklärung der Antragsteller für 2006 war im FA nur zur überschlägigen Prüfung vorgesehen. Der zuständige Bearbeiter vermerkte in der Prüfungsdokumentation durch Ankreuzen der entsprechenden Formularfelder, die Erklärung sei vollständig, schlüssig und glaubhaft. Demgegenüber war die Steuererklärung für 2007 zur Intensivprüfung vorgesehen. Im elektronisch unterstützten Veranlagungsverfahren wurden dem Bearbeiter zahlreiche maschinelle Prüfhinweise vorgegeben. Einer dieser Hinweise lautete: „Schwerpunktprüfung: Es liegen Eintragungen zu Kz 52.35/36 [= Zeile 63 des Mantelbogens] vor, die zur Anwendung des neuen Rechts führen. Bitte prüfen. Sollte es sich um steuerpflichtige Beiträge zur VBL/ZVK handeln, sind diese in Kz 52.44/46 einzutragen.“ Der Sachbearbeiter richtete mit Schreiben vom 1. und 11. August 2008 an die Antragsteller zahlreiche Rückfragen zur Steuererklärung, die allerdings nicht die hier streitigen Beiträge zur Altersversorgung betrafen. Im weiteren Verlauf der Bearbeitung versah er die von den Antragstellern in Zeile 63 eingetragene Zahl mit einem Haken und bescheinigte in der Prüfungsdokumentation, er habe die Intensivprüfung vorgenommen, insbesondere bei den Einkünften aus Kapitalvermögen, den freiberuflichen Einkünften und den Steuerberatungskosten.
Im Ergebnis veranlagte das Finanzamt die Antragsteller hinsichtlich der Altersvorsorgeaufwendungen in den nicht unter dem Vorbehalt der Nachprüfung ergangenen ursprünglichen Bescheiden für 2006 und 2007 erklärungsgemäß. Dies führte dazu, dass der Gesamtbeitrag des Antragstellers zum Versorgungswerk doppelt berücksichtigt wurde.
In der Folgezeit entwickelte die für die Risikoprüfung zuständige Mittelbehörde ein Prüfungsraster, mit dem Fälle, in denen es möglicherweise zu einem doppelten Ansatz von Altersvorsorgeaufwendungen gekommen war, maschinell erkannt werden konnten. Am 9. März 2011 richtete sie an das FA eine Kontrollmitteilung, in der es u.a. hieß: „Die Prüfung der Kennzahlen 52.30/47/32/35 … zeigte für o.g. Steuerpflichtigen Merkmale des in der ESt-Kurzinformation 06/2010 beschriebenen Sachverhalts. … Bitte kontrollieren Sie die berücksichtigten Sonderausgaben, insbesondere hinsichtlich möglicher Mehrfacherklärung/-erfassung von Zahlungen aufgrund einer Bescheinigung des Versorgungsträgers zusätzlich zum Ausweis der Beiträge auf der Lohnsteuerbescheinigung. Von einer rein summarischen Kontolle ist abzuraten, da neben Jahresverschiebungen vereinzelt private Zusatzzahlungen festgestellt wurden.“
Nach entsprechender Ankündigung erließ das FA am 23. Februar 2012 die im Hauptsacheverfahren angefochtenen geänderten Einkommensteuerbescheide für 2006 und 2007, die es verfahrensrechtlich auf § 173 Abs. 1 Nr. 1 AO gestützt hat. Darin wurden nur noch die materiell-rechtlich zutreffenden Altersvorsorgeaufwendungen angesetzt.
Dem hiergegen gerichteten Antrag auf Aussetzung der Vollziehung der Änderungsbescheide gab nun der Bundesfinanzhof letztinstanzlich nur für das Jahr 2006 statt:
Änderungsbefugnis wegen nachträglich bekannt gewordener Tatsachen
Es bestehen keine ernstlichen Zweifel daran, dass das Finanzamt die Einkommensteuerbescheide für 2006 und 2007 nach § 173 Abs. 1 Nr. 1 AO ändern durfte. Die ursprünglichen Bescheide waren –was zwischen den Beteiligten zu Recht nicht streitig ist– materiell-rechtlich unrichtig. Der zuständigen Stelle im Finanzamt sind Tatsachen nachträglich bekannt geworden. Die Grundsätze von Treu und Glauben führen nicht dazu, dass ausnahmsweise von der Anwendung des § 173 Abs. 1 Nr. 1 AO abzusehen wäre.
Tatsache i.S. des § 173 Abs. 1 AO ist jeder Lebenssachverhalt, der Merkmal oder Teilstück eines gesetzlichen Tatbestands sein kann, also Zustände, Vorgänge, Beziehungen, Eigenschaften materieller oder immaterieller Art1.
Vor dem materiell-rechtlichen steuergesetzlichen Hintergrund, dass nur tatsächlich gezahlte Altersvorsorgeaufwendungen den Tatbestand des § 10 Abs. 1 Nr. 2 des Einkommensteuergesetzes erfüllen, ist im vorliegenden Fall als „Tatsache“ der Umstand anzusehen, dass der Antragsteller in den Streitjahren lediglich Altersvorsorgeaufwendungen (einschließlich der Zuschüsse des Arbeitgebers) in Höhe von 10.296 € (2006) bzw. 10.865 € (2007) geleistet hatte, nicht aber die wesentlich höheren in den Steuererklärungen insgesamt als Altersvorsorgeaufwendungen angegebenen Beträge.
Diese Tatsache ist dem Finanzamt nachträglich bekannt geworden.
Maßgebend ist der Zeitpunkt, in dem die Willensbildung über die vorangegangene Steuerfestsetzung abgeschlossen war2, im Streitfall also die Zeichnung des Eingabewertbogens zum Erlass der Abhilfebescheide auf die jeweils gegen die Erstbescheide eingelegten Einsprüche hin. Die Kontrollmitteilung der Mittelbehörde ging erst nach Zeichnung dieser Eingabewertbögen im zuständigen Veranlagungsbezirk ein.
Hinsichtlich des Grades der erforderlichen Kenntnis ist zu differenzieren: Der Inhalt der in der zuständigen Dienststelle geführten Steuerakten gilt als bekannt, ohne dass es insoweit auf die individuelle Kenntnis des jeweiligen Bearbeiters ankommt3. Bei Tatsachen, die sich nicht aus den Akten ergeben, ist hingegen die positive Kenntnis des zuständigen Bearbeiters erforderlich; ein Kennenmüssen reicht hier nicht aus4.
Vorliegend ergab sich die Höhe der in den Streitjahren tatsächlich vom Antragsteller geleisteten Altersvorsorgeaufwendungen weder aus den Akten noch war sie dem zuständigen Bearbeiter positiv bekannt. Die eingereichten Lohnsteuerbescheinigungen ließen nicht erkennen, dass es sich bei den dort eingetragenen Altersvorsorgeaufwendungen um Beiträge zum Versorgungswerk handelte. Anders als die Antragsteller meinen, folgt eine entsprechende Tatsachenkenntnis des zuständigen Sachbearbeiters auch nicht daraus, dass aus den Steuererklärungen die berufliche Tätigkeit des Antragstellers als Arzt erkennbar war. Denn auch nichtselbständig tätige Ärzte unterliegen grundsätzlich der gesetzlichen Rentenversicherungspflicht. Ihre Befreiung von dieser Versicherungspflicht durch Mitgliedschaft in einem Versorgungswerk ist nur unter den –vom Gesetzgeber zunehmend eingeschränkten– Voraussetzungen des § 6 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 SGB – VI möglich und setzt sowohl einen entsprechenden Antrag des Pflichtversicherten (§ 6 Abs. 2 SGB VI) als auch eine positive Bescheidung dieses Antrags durch den Rentenversicherungsträger (§ 6 Abs. 3 SGB VI) voraus. Umgekehrt enthielten die Jahreskontoausweise des Versorgungswerks keine Hinweise darauf, dass es sich um Pflichtbeiträge für einen von der gesetzlichen Rentenversicherungspflicht befreiten Arbeitnehmer handelte und in den bescheinigten Beträgen ein hälftiger Arbeitgeberzuschuss enthalten war.
Der Umstand, dass dem Bearbeiter bei einer sorgfältigen Analyse der Steuererklärungen Zweifel an der Richtigkeit der dort gemachten Angaben hätten kommen können bzw. müssen, ändert nichts daran, dass ihm die maßgebende Tatsache –objektiv– nachträglich bekannt geworden ist. Dieser Umstand ist allerdings im Rahmen der Prüfung, ob eine Änderung nach § 173 Abs. 1 Nr. 1 AO nach Treu und Glauben ausgeschlossen ist, zu berücksichtigen.
Nach ständiger höchstrichterlicher Rechtsprechung ist die Änderung eines Bescheids nach § 173 Abs. 1 Nr. 1 AO trotz Vorliegens aller Tatbestandsvoraussetzungen dieser Norm in Anwendung der Grundsätze von Treu und Glauben ausgeschlossen, wenn dem Finanzamt die nachträglich bekannt gewordene Tatsache bei ordnungsgemäßer Erfüllung seiner Ermittlungspflicht nicht verborgen geblieben wäre. Allerdings muss der Steuerpflichtige dann seinerseits seine Mitwirkungspflicht erfüllt haben. Haben sowohl der Steuerpflichtige als auch das Finanzamt es versäumt, den Sachverhalt aufzuklären, trifft in der Regel den Steuerpflichtigen die Verantwortung, mit der Folge, dass die Berufung des Finanzamt auf die Erfüllung der Voraussetzungen des § 173 Abs. 1 Nr. 1 AO nicht als treuwidrig anzusehen ist5. Demgegenüber scheidet in Fällen beiderseitiger Pflichtverletzungen eine Änderungsmöglichkeit aus, wenn der Verstoß des Finanzamt deutlich überwiegt6.
Vorliegend hat das Finanzamt bei Bearbeitung der Steuererklärungen der Antragsteller seine Ermittlungspflichten verletzt. Sowohl der Umstand, dass Ärzte sich in vielen –wenngleich nicht in allen– Fällen von der gesetzlichen Rentenversicherungspflicht befreien lassen, als auch die –allerdings nur durch Vornahme einer Rechenoperation erkennbare– betragsmäßige Übereinstimmung der Summe der in den Zeilen 61 und 65 eingetragenen Beträge mit dem in Zeile 63 eingetragenen Betrag hätten Anlass zu einer entsprechenden Nachfrage geben müssen. Die zahlreichen anderweitigen Rückfragen des Sachbearbeiters zu der –durchaus umfangreichen– Steuererklärung 2007 zeigen, dass der Bearbeiter die ihm vorgegebene Intensivprüfung vorgenommen hat und ihm im Rahmen dieser Intensivprüfung zahlreiche andere Unstimmigkeiten aufgefallen sind.
Jedoch haben auch die Antragsteller ihre Mitwirkungspflichten verletzt.
Gemäß § 150 Abs. 2 Satz 1 AO sind Angaben in Steuererklärungen wahrheitsgemäß nach bestem Wissen und Gewissen zu machen. Daran fehlt es, da der Antragsteller seine tatsächlich nur einmal geleisteten Beiträge zum Versorgungswerk doppelt in den Steuererklärungen angegeben hatte. Die in der doppelten Eintragung derselben Aufwendungen liegende Pflichtverletzung entfällt ersichtlich auch nicht deshalb, weil die Antragsteller –was für das Jahr 2006 ohnehin streitig ist– ihren Steuererklärungen die Jahreskontoausweise des Versorgungswerks beigefügt hatten.
Nicht zu folgen vermag der BFH der Argumentation der Antragsteller, sie hätten ihre Mitwirkungspflichten (Steuererklärungspflichten) nicht verletzt, weil die Fehler allein einem weitestgehend selbständig arbeitenden Steuerfachgehilfen unterlaufen seien und Fehler einer solchen Hilfsperson –anders als Fehler des Steuerberaters selbst– ihnen nicht zurechenbar seien.
Das –aus den Grundsätzen von Treu und Glauben abzuleitende und daher einen Ausnahmetatbestand darstellende– Änderungsverbot bewirkt, dass das Finanzamt trotz Vorliegens der gesetzlichen Voraussetzungen des § 173 Abs. 1 Nr. 1 AO an einer Erhöhung der Steuerfestsetzung gehindert ist. Bei Zugrundelegung der Grundsätze von Treu und Glauben kann der Steuerpflichtige seine verfahrensrechtliche Position aber nicht dadurch verbessern, dass er seine Steuererklärung durch einen Steuerberater fertigen lässt und der Steuerberater insoweit vorbereitende Tätigkeiten seinem Büropersonal überträgt7.
Ergänzend weist der Bundesfinanzhof auf § 3 der Berufsordnung der Bundessteuerberaterkammer (BO-BStBK) hin: Danach sind Steuerberater verpflichtet, ihre Tätigkeit in eigener Verantwortung auszuüben; sie bilden sich ihr Urteil selbst und treffen ihre Entscheidungen selbständig. Die Beschäftigung von Mitarbeitern ist gemäß § 17 BO-BStBK nur zulässig, soweit diese weisungsgebunden unter der fachlichen Aufsicht und beruflichen Verantwortung des Steuerberaters tätig werden. Auch soweit diese berufsrechtlichen Anforderungen in der Kanzlei des Steuerberaters der Antragsteller nicht erfüllt sein sollten, wären die Antragsteller im Anwendungsbereich der Grundsätze von Treu und Glauben daran gehindert, sich zu ihren eigenen Gunsten auf derartige Organisationsmängel zu berufen.
Im Rahmen der vorzunehmenden Abwägung kommt der Bundesfinanzhof zu dem Ergebnis, dass die Verletzung der Ermittlungspflichten auf Seiten des Finanzamt jedenfalls nicht schwerer wiegt als die Verletzung der Steuererklärungspflichten der Antragsteller, so dass die Grundsätze von Treu und Glauben der Anwendung des § 173 Abs. 1 Nr. 1 AO nicht entgegenstehen.
Maßgebend hierfür ist zum einen, dass allein die Antragsteller –jedenfalls auf einer abstrakten Ebene– über die volle Kenntnis des Sachverhalts verfügten. Sie wussten sowohl, dass der Antragsteller ausschließlich Pflichtbeiträge zum Versorgungswerk, nicht aber Einzahlungen in die gesetzliche Rentenversicherung leistete, und dass die Eintragungen in den Lohnsteuerbescheinigungen sich auf die Beiträge zum Versorgungswerk bezogen. Ferner wussten sie, dass die in den Jahreskontoausweisen des Versorgungswerks bescheinigten Beträge mit den aus den Lohnsteuerbescheinigungen ersichtlichen Beträgen identisch sein mussten, weil der Antragsteller keine über die Pflichtbeiträge hinausgehenden Einzahlungen geleistet hatte.
Der beim Finanzamt zuständige Bearbeiter der Steuererklärung hatte von diesen Umständen des Sachverhalts hingegen –anders als die Antragsteller– keine positive Kenntnis. Ihm ist nur anzulasten, dass er sich Kenntnis hätte verschaffen können, wenn er den aufgezeigten Ermittlungsansätzen nachgegangen wäre. Hinzu kommt, dass die betragsmäßige Übereinstimmung der Eintragungen in den Zeilen 61 und 65 einerseits und in der Zeile 63 andererseits vom Sachbearbeiter nur durch Addition zweier vierstelliger Zahlen erkannt werden können, was nicht jedem auf den ersten Blick möglich ist.
Zwar hatte der Sachbearbeiter für das Jahr 2007 einen Prüfhinweis zu Zeile 63 der Steuererklärung zu bearbeiten. Der Text des Prüfhinweises war aber nicht auf die Vermeidung einer doppelten Berücksichtigung von Beiträgen an das Versorgungswerk gerichtet, sondern stand in Zusammenhang mit Beiträgen zu Zusatzversorgungseinrichtungen des öffentlichen Dienstes und war daher für die Steuererklärung der Antragsteller nicht einschlägig. Zudem waren gerade die Eintragungen der Antragsteller für das Jahr 2007 durchaus plausibel, weil in Zeile 63 des Erklärungsvordrucks ausdrücklich auch „Beiträge zu berufsständischen Versorgungseinrichtungen“ zu erfassen waren und sowohl für die Eintragungen in den Zeilen 61 und 65 (Lohnsteuerbescheinigung) als auch für die Eintragung in Zeile 63 (Jahreskontoausweis) entsprechende Belege vorlagen.
Unzutreffend ist in diesem Zusammenhang die Auffassung der Antragsteller, aus § 16 der Satzung des Versorgungswerks ergebe sich, dass bei Leistung von Pflichtbeiträgen an das Versorgungswerk (Zeilen 61 und 65) die Zahlung zusätzlicher freiwilliger Beiträge (Zeile 63) ausgeschlossen sei. Das Gegenteil ist der Fall, da gemäß § 21 der Satzung freiwillige Mehrzahlungen bis zum allgemeinen Jahreshöchstbetrag zulässig sind und in der Praxis auch häufig geleistet werden. Dieser Jahreshöchstbetrag liegt gemäß § 21 Abs. 2 Satz 2 der Satzung i.V.m. § 5 Abs. 1 Nr. 8 Satz 2 des Körperschaftsteuergesetzes beim Zweieinhalbfachen der Beitragsbemessungsgrenze der gesetzlichen Rentenversicherung und ist durch die Pflichtbeiträge des Antragstellers bei Weitem nicht ausgeschöpft worden. Die Eintragung in Zeile 63 war daher aus Sicht des Finanzamt auch insoweit –dem Grunde nach– plausibel, als sie zusätzlich zu Eintragungen in den Zeilen 61 und 65 erfolgte.
Die Antragsteller haben im Verlaufe des Verfahrens mehrfach vorgetragen, sie hätten auf die unklaren Jahreskontoausweise des Versorgungswerks ebenso vertrauen dürfen wie das Finanzamt. Wenn danach aber beide Seiten gleichermaßen in die Irre geleitet worden sind und jedenfalls keine überwiegende Pflichtverletzung des Finanzamt erkennbar ist, liegt kein Ausnahmefall vor, in dem trotz Erfüllung der gesetzlichen Voraussetzungen des § 173 Abs. 1 Nr. 1 AO die Anwendung dieser Vorschrift nach den Grundsätzen von Treu und Glauben ausgeschlossen ist.
Verlängerte Festsetzungsfrist wegen leichtfertiger Steuerverkürzung
Es bestehen jedoch insoweit ernstliche Zweifel an der Rechtmäßigkeit des geänderten Einkommensteuerbescheids für 2006, als das Finanzgericht angenommen hat, dieser Bescheid habe die Festsetzungsfrist gewahrt, weil den Antragstellern eine leichtfertige Steuerverkürzung vorzuwerfen sei.
Im Zeitpunkt des Ergehens des Änderungsbescheids (23.02.2012) war die reguläre Festsetzungsfrist für den Veranlagungszeitraum 2006 bereits abgelaufen. Die Antragsteller hatten ihre Steuererklärung im Jahr 2007 abgegeben; die vierjährige Festsetzungsfrist endete daher mit Ablauf des 31.12.2011.
Die Festsetzungsfrist würde sich gemäß § 169 Abs. 2 Satz 2 AO auf fünf Jahre verlängern und wäre durch den Änderungsbescheid vom 23.02.2012 gewahrt worden, wenn die Steuer, die aufgrund der doppelten Geltendmachung der Altersvorsorgeaufwendungen in der Steuererklärung 2006 zunächst nicht festgesetzt worden war, als leichtfertig verkürzt (§ 378 Abs. 1 Satz 1 AO) anzusehen wäre.
Leichtfertigkeit bedeutet einen erheblichen Grad an Fahrlässigkeit, der etwa der groben Fahrlässigkeit des bürgerlichen Rechts entspricht, im Gegensatz dazu aber auf die persönlichen Fähigkeiten des Täters abstellt8. Um den subjektiven Tatbestand einer leichtfertigen Steuerverkürzung feststellen zu können, muss das Finanzgericht den Steuerpflichtigen jedenfalls in Grenzfällen persönlich anhören, wenn sich nicht bereits aus dokumentierten Äußerungen, Urkunden oder sonstigen Indizien die Leichtfertigkeit eindeutig ergibt9.
Danach bestehen auf der Grundlage des gegenwärtigen Sach- und Streitstands ernstliche Zweifel daran, ob der Antragsteller leichtfertig gehandelt hat. Zwar enthält die Steuererklärung objektiv falsche Angaben. Ob der Antragsteller oder sein Steuerberater aber auch den subjektiven Tatbestand der leichtfertigen Steuerverkürzung erfüllt hat, ergibt sich weder aus dokumentierten Äußerungen, Urkunden oder sonstigen Indizien noch hat das Finanzgericht seine Würdigung auf eine persönliche Anhörung des Antragstellers oder seines Steuerberaters gestützt.
Zwar weist das Finanzamt im Ansatz zutreffend darauf hin, jeder Steuerpflichtige und jeder Steuerberater –oder Steuerfachgehilfe– müsse wissen, dass dieselben Aufwendungen nicht doppelt geltend gemacht werden dürften. Angesichts der fehlenden Erläuterungen sowohl in der Lohnsteuerbescheinigung als auch in den Jahreskontoauszügen liegt aber die Würdigung nahe, dass –aus Sicht des Steuerberaters– nicht schon der Umstand, dass zusätzlich zur Lohnsteuerbescheinigung noch freiwillige Beiträge an das Versorgungswerk geltend gemacht wurden, sondern erst die betragsmäßige Übereinstimmung der Beträge zu einer Überprüfung hätten Anlass geben müssen. Ebenso wie bei der Würdigung des Grades der Verletzung der Ermittlungspflichten des Sachbearbeiters des Finanzamt ist aber auch bei der Prüfung des Verschuldens des Steuerberaters zu würdigen, dass das Erkennen der betragsmäßigen Übereinstimmung die Addition vierstelliger Zahlen voraussetzte, deren Ergebnis nicht ohne weiteres ins Auge springt. Ob den Antragstellern bei der –ihnen trotz Einschaltung eines Steuerberaters eigenverantwortlich obliegenden– Überprüfung der vorbereiteten Steuererklärung der doppelte Ansatz der Altersvorsorgeaufwendungen hätte ins Auge springen müssen, ist Tatfrage und bedarf der weiteren Aufklärung im noch anhängigen Hauptsacheverfahren.
Bundesfinanzhof, Beschluss vom 14. Mai 2013, X B 33/13
- ständige Rechtsprechung, vgl. BFH, Entscheidungen vom 30.10.2003 – III R 24/02, BFHE 204, 10, BStBl II 2004, 394, unter II.1., und vom 19.10.2011 – X R 29/10, BFH/NV 2012, 227, unter II.1.a[↩]
- BFH, Urteil vom 22.04.2010 – VI R 40/08, BFHE 229, 57, BStBl II 2010, 951, unter II.1.c[↩]
- BFH, Urteil vom 03.05.1991 – V R 36/90, BFH/NV 1992, 221, unter II.1.b, m.w.N.[↩]
- BFH, Urteil vom 19.11.2008 – II R 10/08, BFH/NV 2009, 548, unter II.1.[↩]
- BFH, Entscheidungen vom 28.06.2006 – XI R 58/05, BFHE 214, 319, BStBl II 2006, 835, und vom 06.02.2013 – X B 164/12, BFH/NV 2013, 694, unter II.2.b[↩]
- BFH, Urteil vom 20.12.1988 – VIII R 121/83, BFHE 156, 339, BStBl II 1989, 585, unter II.6.[↩]
- vgl. hierzu bereits BFH, Beschluss in BFH/NV 2013, 694, unter II.2.c[↩]
- BFH, Urteil vom 19.12.2002 – IV R 37/01, BFHE 200, 495, BStBl II 2003, 385, unter II.2., m.w.N.[↩]
- BFH, Urteil vom 17.11.2011 – IV R 2/09, BFH/NV 2012, 1309, unter II.4.b cc[↩]