Nachträgliches Bekanntwerden neuer Tatsachen

Eine Änderung wegen neuer Tatsachen ist ausgeschlossen, wenn die Tatsache dem Sachbearbeiter zum maßgeblichen Zeitpunkt bekannt war oder bei ordnungsgemäßer Erfüllung seiner Ermittlungspflicht nicht verborgen geblieben wäre. Der Finanzbehörde gilt nur der Inhalt der Akten als bekannt, die in der zuständigen Dienststelle für den zu veranlagenden Steuerpflichtigen geführt werden. Tatsachen, die sich aus den Akten anderer Steuerpflichtiger ergeben, gelten auch dann nicht als bekannt, wenn für deren Bearbeitung dieselbe Person zuständig ist.

Nachträgliches Bekanntwerden neuer Tatsachen

Gemäß § 173 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 AO sind Steuerbescheide aufzuheben oder zu ändern, soweit Tatsachen oder Beweismittel nachträglich bekannt werden, die zu einer höheren Steuer führen. Die Änderung eines Bescheids ist nach Treu und Glauben ausgeschlossen, wenn dem Finanzamt die nachträglich bekannt gewordene Tatsache bei ordnungsgemäßer Erfüllung seiner Ermittlungspflicht nicht verborgen geblieben wäre. Allerdings muss der Steuerpflichtige dann seinerseits seine Mitwirkungspflicht erfüllt haben. Haben sowohl der Steuerpflichtige als auch das Finanzamt es versäumt, den Sachverhalt aufzuklären, trifft in der Regel den Steuerpflichtigen die Verantwortung, mit der Folge, dass der Steuerbescheid geändert werden kann1

Nachträglich werden Tatsachen oder Beweismittel bekannt, wenn deren Kenntnis nach dem Zeitpunkt erlangt wird, in dem die Willensbildung über die Steuerfestsetzung abgeschlossen ist.

Nach der Rechtsprechung des BFH kommt es dabei nicht auf die Kenntnis der „Finanzbehörde“ als solche, sondern auf die Kenntnis der zur Bearbeitung des Steuerfalls organisatorisch berufenen Dienststelle an2.

Dabei ist allerdings dieser Stelle grundsätzlich das bekannt, was sich aus den bei ihr geführten Akten ergibt, ohne dass es auf die individuelle Kenntnis des Bearbeiters ankommt3. Zu den Akten gehören alle Schriftstücke, die bei der Dienststelle vorliegen oder sie im Dienstgang erreichen. Bekannt sind der zuständigen Dienststelle in diesem Sinn auch sämtliche Informationen, die dem Bearbeiter von vorgesetzten Dienststellen zur Verfügung gestellt werden4. Ist dem Bearbeiter der zuständigen Dienststelle im Zeitpunkt der Veranlagung der Inhalt der Akten nach diesen Grundsätzen bekannt, so können die hier aufgeführten Tatsachen nicht mehr nachträglich bekannt werden und damit auch nicht mehr Grundlage für die Änderung eines bestandskräftigen Bescheids gemäß § 173 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 AO sein5.

Ergibt sich die Tatsache oder das Beweismittel nicht aus den Akten, kommt es auf die Kenntnis derjenigen Person oder Stelle innerhalb der Finanzbehörde an, die für die Bearbeitung des Streitfalls organisationsmäßig berufen war6. Zu diesen Personen zählen regelmäßig der Sachbearbeiter, der Sachgebietsleiter und der Vorsteher7. Bekannt sind diejenigen Tatsachen und Beweismittel, die der zuständige Finanzbeamte in Ausübung seines Amtes erlangt. Rein privates Wissen des Beamten ist demgegenüber der Finanzbehörde nicht zuzurechnen6.

Nach diesen Grundsätzen kann dem Finanzamt nur der Inhalt der Akten als bekannt gelten, die in der zuständigen Dienststelle für den zu veranlagenden Steuerpflichtigen geführt werden8. Tatsachen, die sich aus den Akten anderer Steuerpflichtiger ergeben, gelten auch dann nicht als bekannt, wenn für deren Bearbeitung dieselbe Person zuständig ist. Denn maßgeblich ist grundsätzlich die tatsächliche Kenntnis der Finanzbehörde, nicht das Kennenkönnen oder Kennenmüssen. Soweit die Rechtsprechung aktenkundige Tatsachen stets als bekannt voraussetzt, handelt es sich um eine wesentliche Einschränkung und Ausnahme vom Grundsatz der subjektiven Gegebenheiten. Der Ausnahmecharakter gebietet die Beschränkung auf zugängliche9 und den Steuerpflichtigen unmittelbar betreffende Akten.

Bundesfinanzhof, Urteil vom 13. Juni 2012 – VI R 85/10

  1. ständige Rechtsprechung des BFH, s. etwa BFH, Urteil vom 28.06.2006 – XI R 58/05, BFHE 214, 319, BStBl II 2006, 835; Klein/Rüsken, a.a.O., § 173 Rz 80 ff.[]
  2. a.A. Loose in Tipke/Kruse, Abgabenordnung, Finanzgerichtsordnung, § 173 AO Rz 31[]
  3. BFH, Urteil vom 28.04.1998 – IX R 49/96, BFHE 185, 370, BStBl II 1998, 458; kritisch zur Rechtsprechung von Groll in Hübschmann/Hepp/Spitaler –HHSp–, § 173 AO Rz 183 ff.[]
  4. BFH, Entscheidung vom 13.01.2011 – VI R 61/09, BFHE 232, 5, BStBl II 2011, 479[]
  5. BFH, Urteile vom 20.06.1985 – IV R 114/82, BFHE 143, 520, BStBl II 1985, 492; vom 05.11.1970 – V R 71/67, BFHE 101, 156, BStBl II 1971, 220[]
  6. BFH, Urteil in BFHE 185, 370, BStBl II 1998, 458[][]
  7. BFH, Urteil vom 14.11.2007 – XI R 48/06, BFH/NV 2008, 367[]
  8. BFH, Urteil in BFHE 101, 156, BStBl II 1971, 220; Urteil des Finanzgericht Köln vom 13.03.2003 6 K 5158/99, Entscheidungen der Finanzgerichte 2003, 1060; von Groll in HHSp, § 173 AO Rz 188; Frotscher in Schwarz, AO, § 173 Rz 123; von Wedelstädt in Beermann/Gosch, AO § 173 Rz 56.4 unter Bezugnahme auf ein Urteil des Finanzgericht Düsseldorf vom 31.10.1991 14 K 185/87 E; Klein/Rüsken, a.a.O., § 173 Rz 65[]
  9. s. dazu von Groll in HHSp, § 173 AO Rz 190[]