Guthabenkarten über näher bezeichnete und im Inland zu erbringende Leistungen konnten wie eine Ware gehandelt werden und führten jedenfalls vor Inkrafttreten der § 3 Abs. 13 ff. UStG über die Anzahlungsbesteuerung zu einer Steuerentstehung.
Durch Art. 9 Nr. 2 Buchst. b des Gesetzes zur Vermeidung von Umsatzsteuerausfällen beim Handel mit Waren im Internet und zur Änderung weiterer steuerlicher Vorschriften vom 11.12.20181 wurden auf der Grundlage von Art. 30a der Richtlinie 2006/112/EG des Rates vom 28.11.2006 über das gemeinsame Mehrwertsteuersystem (MwStSystRL) § 3 UStG die Absätze 13 bis 15 angefügt, die gemäß § 27 Abs. 23 UStG erstmals auf Gutscheine anzuwenden sind, die nach dem 31.12.2018 ausgestellt werden. Auf vor dem 01.01.2019 ausgestellte Gutscheine findet § 3 Abs. 13 bis 15 UStG daher keine Anwendung.
Nach dem zu Telekommunikationsdienstleistungen i.S. des Art. 9 Abs. 2 Buchst. e zehnter Gedankenstrich der Sechsten Richtlinie 77/388/EWG des Rates vom 17.05.1977 zur Harmonisierung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über die Umsatzsteuern -Richtlinie 77/388/EWG- (heute: Art. 58 Unterabs. 1 Buchst. a MwStSystRL) ergangenen „Lebara“, Urteil des Gerichtshofs der Europäischen Union2 werden Guthabenkarten wie eine Ware gehandelt3.
Danach erbringt in einer Vertriebskette, die zumindest einen Zwischenhändler -als Vertriebshändler- zwischen dem Telefonanbieter und dem Endnutzer umfasst4, der Telefonanbieter nur eine Telekommunikationsdienstleistung an den Zwischenhändler, an den er die Telefonkarte verkauft, nicht jedoch eine (weitere) Leistung an etwaige weitere Zwischenhändler oder an den Endnutzer. Sowohl der ursprüngliche Verkauf der Karte als auch ihr anschließender Weiterverkauf sind steuerbare Umsätze; in jedem Glied der Kette ist die Mehrwertsteuer genau proportional zum gezahlten Preis und lässt den Abzug der Vorsteuer zu5. Auch beim letzten Verkauf der Karte an den Endnutzer ist die Mehrwertsteuer genau proportional zu dem von diesem für den Erwerb der Karte gezahlten Preis, selbst wenn dieser Preis nicht dem Nennwert der Karte entspricht.
Auf dieser Grundlage liegt der Ort der hinreichend bestimmbaren Leistung im hier entschiedenen Fall im Inland. Im Hinblick auf die Verwendung der deutschen Länderkennung waren bei vertragsgemäßem Verhalten die Empfänger der von der Händlerin erbrachten Leistungen im Inland ansässig. Auf vertragswidriges Verhalten kann sich die Händlerin dagegen nicht berufen. Mit Erhalt der X-Card wurde der jeweilige Empfänger in die Lage versetzt, aus dem Katalog des X-Store die dort bezeichneten digitalen Inhalte zu den dort angeführten Preisen zu beziehen. Damit bezog sich die X-Card auf elektronische Dienstleistungen i.S. des Art. 7 der Durchführungsverordnung (EU) Nr. 282/2011 des Rates vom 15.03.2011 zur Festlegung von Durchführungsvorschriften zur Richtlinie 2006/112/EG über das gemeinsame Mehrwertsteuersystem, § 3a Abs. 5 Satz 2 Nr. 3 UStG. Der Gegenstand der elektronischen Leistung, die in der jeweiligen X-Card verkörpert wurde, war damit hinreichend bestimmbar. Dass im Sortiment des X-Store Leistungen enthalten gewesen wären, die im Streitjahr dem ermäßigten Steuersatz unterlegen hätten, ist weder vom Finanzgericht festgestellt, von der Händlerin schlüssig vorgetragen noch sonst ersichtlich6.
Auch der Ort der in der X-Card verkörperten Leistungen stand hinreichend fest. Ist der Empfänger der in § 3a Abs. 5 Satz 2 Nr. 3 UStG bezeichneten sonstigen Leistung kein Unternehmer, für dessen Unternehmen die Leistung bezogen wird -wie im Streitfall die Kunden der Händlerin-, wird die sonstige Leistung an dem Ort ausgeführt, an dem der Leistungsempfänger seinen Wohnsitz, seinen gewöhnlichen Aufenthaltsort oder seinen Sitz hat (§ 3a Abs. 5 Satz 1 Nr. 1 UStG).
Der Ort dieser Leistung stand fest, da nur eine Leistungserbringung an im Inland ansässige Endverbraucher in Betracht kam. Nichts anderes gälte nach § 3a Abs. 2 Satz 1 UStG aber auch für den Fall, dass Leistungsempfänger ein Unternehmer (z.B. ein professioneller e-Sportler) gewesen wäre. Denn nach den Bedingungen für die Nutzung der X-Cards besteht eine strikte Ländertrennung. Danach kann nur Guthaben aktiviert werden, welches tatsächlich für das Land des Nutzerkontos bestimmt ist. Bei der Eröffnung eines Nutzerkontos sind Identität und Wohnsitz des Nutzers wahrheitsgemäß anzugeben; für den Fall einer Identitäts- oder Wohnsitztäuschung ist ausdrücklich die Sperrung des Nutzerkontos mit dem Verfall des eingezahlten Guthabens angedroht. Für Kunden mit Wohnsitz oder gewöhnlichem Aufenthaltsort im Inland und einem deutschen X-Konto ist die Kennung DE vorgesehen. Diese Konten können nur mit einer Guthabenkarte mit der Länderkennung DE aufgeladen werden. Danach scheidet auch eine etwaige unternehmerische Nutzung des Kartenguthabens im übrigen Gemeinschaftsgebiet oder Drittland aus. Auf dieser Grundlage standen für den Regelfall einer vertragsgemäßen Nutzung des – X sowohl der Leistungsort als auch die Steuerschuld fest.
Die Händlerin kann sich demgegenüber nicht mit Erfolg auf einen systemwidrigen Umstand berufen, der in ihrer eigenen Einflusssphäre liegt, nämlich dass sie nach den Feststellungen des Finanzgericht entgegen dem von Y entwickelten Vertriebssystem X-Cards auch an Personen ausgab, die sich bei ihr mit ausländischem Wohnsitz registriert haben; dass -über die theoretische Möglichkeit hinaus- von der Händlerin als solche benannte „Wegzugsfälle“ vorlägen, ist weder vom Finanzgericht gestellt, substantiiert vorgetragen noch sonst ersichtlich. Bei der rechtlichen Beurteilung der X-Cards ist von deren bestimmungsgemäßer Verwendung auszugehen.
Im Übrigen handelt es sich nach der im Streitjahr bestehenden Rechtslage bei der entgeltlichen Übertragung eines auf eine bestimmte Leistung ausgerichteten Warengutscheins7 dem Grunde nach um eine Anzahlung, so dass die Vereinnahmung eines Entgelts für die Begebung des Warengutscheins zu einer Anzahlungsbesteuerung führt8.
Wird das Entgelt für Lieferungen oder sonstige Leistungen i.S. des § 1 Abs. 1 Nr. 1 UStG ganz oder teilweise vereinnahmt, bevor die Leistung oder die Teilleistung ausgeführt worden ist, entsteht insoweit die Steuer nach § 13 Abs. 1 Nr. 1 Buchst. a Satz 4 UStG mit Ablauf des Voranmeldungszeitraums, in dem das Entgelt oder das Teilentgelt vereinnahmt worden ist. Die Regelung beruht auf Art. 65 MwStSystRL (vormals: Art. 10 Abs. 2 Unterabs. 2 der Richtlinie 77/388/EWG), wonach der Steueranspruch zum Zeitpunkt der Vereinnahmung entsprechend dem vereinnahmten Betrag entsteht, wenn Anzahlungen geleistet werden, bevor die Lieferung von Gegenständen bewirkt oder die Dienstleistung erbracht ist.
Das Entstehen des Steueranspruchs nach § 13 Abs. 1 Nr. 1 Buchst. a Satz 4 UStG sowie gemäß Art. 65 MwStSystRL erfordert, dass alle maßgeblichen Elemente des Steuertatbestands, d.h. der künftigen Lieferung oder der künftigen Dienstleistung, bereits bekannt und somit die Gegenstände oder die Dienstleistungen zum Zeitpunkt der Anzahlung genau bestimmt sind9.
Diese Voraussetzungen sind im hier entschiedenen Streitfall erfüllt. Eine etwaige unzutreffende (Nicht-)Besteuerung von Konkurrenten kann (nur) mit der Konkurrentenklage geltend gemacht werden10.
Bundesfinanzhof, Beschluss vom 29. November 2022 – XI R 11/21
- BGBl I 2018, 2338, BStBl I 2018, 1377[↩]
- EuGH, Urteil Lebara vom 03.05.2012 – C-520/10, EU:C:2012:264, Rz 28 ff., 42 f.[↩]
- vgl. BFH, Urteil vom 10.08.2016 – V R 4/16, BFHE 254, 458, BStBl II 2017, 135, Rz 15; BFH, Beschluss vom 16.08.2022 – XI S 4/21 (AdV), BFH/NV 2022, 1261, Rz 40 ff.; s.a. zum neuen Recht BFH, Beschluss vom 03.11.2022 – XI R 21/21, unter II. 4.[↩]
- EuGH, Urteil Lebara, EU:C:2012:264, Rz 30[↩]
- EuGH, Urteil Lebara, EU:C:2012:264, Rz 42[↩]
- vgl. hierzu BFH, Urteil vom 03.12.2015 – V R 43/13, BFHE 252, 171, BStBl II 2016, 858, Leitsatz[↩]
- vgl. BFH, Urteil vom 24.08.2006 – V R 16/05, BFHE 215, 311, BStBl II 2007, 340, unter II. 2.c bb[↩]
- Wäger in Wäger, UStG, 2. Aufl., § 3 Rz 662[↩]
- vgl. EuGH, Urteile BUPA Hospitals und Goldsborough Developments vom 21.02.2006 – C-419/02, EU:C:2006:122, Rz 48; Lebara, EU:C:2012:264, Rz 26; Kollroß und Wirtl vom 31.05.2018 – C-660/16 und – C-661/16, EU:C:2018:372, Rz 40[↩]
- vgl. BFH, Urteil vom 28.06.2017 – XI R 23/14, BFHE 258, 517, Rz 51[↩]