Umsatzsteuerfreie Leistungen einer Hygienefachkraft

Gegenüber Alten- und Pflegeeinrichtungen erbrachte Leistungen einer selbstständigen Hygienefachkraft sind nach Art. 132 Abs. 1 Buchst. g MwStSystRL umsatzsteuerfrei. 

Umsatzsteuerfreie Leistungen einer Hygienefachkraft

In dem hier vom Finanzgericht Münster entschiedenen Rechtsstreit erbringt ein ausgebildeter Fachkrankenpfleger für Krankenhaushygiene, der als selbständige Hygienefachkraft tätig ist, seine Leistungen unter anderem gegenüber Krankenhäusern, Altenheimen und Pflegezentren. Hierzu gehören die Schulung, Beratung und Fortbildung des Personals, die Erstellung von Hygienekonzepten und -plänen, die Festlegung der Vorgehensweise bei einer Isolierung von Patienten sowie Hausbegehungen. Das Finanzamt behandelte die gegenüber Krankenhäusern erbrachten Leistungen des Pflegers als umsatzsteuerfrei, unterwarf jedoch die gegenüber Alten- und Pflegeheimen erbrachten Leistungen der Besteuerung. Mit seiner Klage begehrte die Hygienefachkraft eine vollständige Freistellung seiner Umsätze, da Altenheime im Hinblick auf Hygienestandards Krankenhäusern gleichzustellen seien, und erhielt vom Finanzgericht Münster Recht:

Die streitigen Leistungen fielen zwar nicht unter eine nationale Befreiungsvorschrift des UStG, so das Finanzgericht, der Pfleger könne sich aber unmittelbar auf die MwStSystRL berufen. Den für eine Einordnung der Leistungen als Heilbehandlungen im Sinne von § 4 Nr. 14 Buchst. a UStG erforderlichen unmittelbaren Bezug zu einer Behandlungstätigkeit in Krankenhäusern oder anderen medizinischen Einrichtungen im Einzelfall habe der Pfleger nicht nachgewiesen. Aus dem gleichen Grund könne er sich auch nicht auf die Befreiungsvorschrift für Leistungen einer Hygienefachkraft zur Verhütung von nosokomialen Infektionen und zur Vermeidung der Weiterverbreitung von Krankheitserregern (§ 4 Nr. 14 Buchst. e UStG) berufen. Zudem sei diese Vorschrift im Streitjahr 2012 noch nicht anwendbar gewesen. Auch die Voraussetzungen des § 4 Nr. 16 Buchst. d und e UStG lägen nicht vor, da die Alten- und Pflegeheime keine häusliche Pflege erbracht hätten bzw. der Pfleger seine Leistungen nicht unmittelbar gegenüber den Heimbewohnern erbracht habe.

Allerdings fielen die streitigen Leistungen unter Art. 132 Abs. 1 Buchst. g MwStSystRL, wonach eng mit der Betreuung oder Pflege hilfsbedürftiger Personen verbundene Leistungen steuerfrei seien. Diese Vorschrift sei nicht vollständig in nationales Recht umgesetzt worden, sodass der Pfleger sich unmittelbar hierauf berufen könne. Die Hygieneleistungen seien eng mit den der Sozialfürsorge und der sozialen Sicherheit unterfallenden Umsätzen der Alten- und Pflegeheime verbunden, da gerade dort die Einhaltung hygienischer Anforderungen unerlässlich sei, was insbesondere während der noch andauernden Corona-Pandemie mehr als deutlich geworden sei. Gerade Bewohner dieser Einrichtungen seien besonders anfällig für Infektionen und damit besonders schutzbedürftig. Der Pfleger sei auch als Einrichtung mit sozialem Charakter anzuerkennen, da sein Tätigkeitsbereich durch spezifische Vorschriften des HeimG sowie durch Empfehlungen der beim Robert-Koch-Institut eingerichteten Kommission für Krankenhaushygiene und Infektionsprävention geregelt und die Tätigkeit von überragendem Gemeinwohlinteresse sei.

Nachdem das Finanzamt bereits die an die Krankenhäuser erbrachten Leistungen des Pflegers zu Recht entsprechend den Ausführungen im Urteil des Bundesfinanzhofs vom 05.11.20141 als steuerfrei mit entsprechender Kürzung der Vorsteuern behandelt hat, ist vorliegend allein noch die Steuerfreiheit der Umsätze an Alten- bzw. Pflegeheime/-zentren strittig.

Die Hygiene-Dienstleistungen des Pflegers an Alten- und Pflegeheime sind gem. § 1 Abs. 1 Nr. 1 Satz 1 UStG steuerbar und nach nationalem Recht weder nach § 4 Nr. 14 Buchst. a UStG, noch nach § 4 Nr. 14 Buchst. e UStG oder § 4 Nr. 16 Buchstaben d), e) oder h) UStG von der Umsatzsteuer befreit. Der Pfleger kann sich jedoch unmittelbar auf die unionsrechtliche Befreiungsregelung des Art. 132 Abs. 1 Buchst. g MwStSystRL berufen.

Die strittigen Umsätze des Pflegers sind nicht nach § 4 Nr. 14 Buchst. a UStG steuerbefreit.

Nach § 4 Nr. 14 Buchst. a UStG sind „Heilbehandlungen im Bereich der Humanmedizin, die im Rahmen der Ausübung der Tätigkeit als Arzt, Zahnarzt, Heilpraktiker, Physiotherapeut, Hebamme oder einer ähnlichen heilberuflichen Tätigkeit durchgeführt werden“ steuerfrei. Die Vorschrift beruht auf Art. 132 Abs. 1 Buchst. c MwStSystRL, wonach Heilbehandlungen im Bereich der Humanmedizin, die im Rahmen der Ausübung der von dem betreffenden Mitgliedstaat definierten ärztlichen und arztähnlichen Berufe durchgeführt werden, steuerfrei sind.

Der Begriff der Heilbehandlungen im Bereich der Humanmedizin ist „nicht besonders eng auszulegen“2. Er umfasst die Diagnose, die Behandlung und, soweit möglich, die Heilung von Krankheiten oder Gesundheitsstörungen. Heilbehandlungen müssen einen therapeutischen Zweck haben. Zu den Heilbehandlungen im Bereich der Humanmedizin gehören auch Leistungen, die zum Zweck der Vorbeugung erbracht werden, wie vorbeugende Untersuchungen und ärztliche Maßnahmen an Personen, die an keiner Krankheit oder Gesundheitsstörung leiden, sowie Leistungen, die zum Schutz einschließlich der Aufrechterhaltung oder Wiederherstellung der menschlichen Gesundheit erbracht werden. Daraus folgt, dass ärztlichen Leistungen, die zu dem Zweck erbracht werden, die menschliche Gesundheit zu schützen, aufrechtzuerhalten oder wiederherzustellen, die in Art. 132 Abs. 1 Buchst. c MwStSystRL vorgesehene Steuerbefreiung zugutekommt3.

Allerdings kann der Begriff „ärztliche Heilbehandlung“ nicht auf sämtliche Leistungen, die mit der Behandlung von Patienten zusammenhängen, ausgedehnt werden. Denn die bei der Auslegung des § 4 Nr. 14 Buchst. a UStG zu berücksichtigende Bestimmung des Art. 132 Abs. 1 Buchst. c MwStSystRL enthält -im Gegensatz zu Art. 132 Abs. 1 Buchst. b MwStSystRL- keine Bezugnahme auf Umsätze, die „mit ärztlichen Heilbehandlungen eng verbunden“ sind. Deshalb erfasst Art. 132 Abs. 1 Buchst. c MwStSystRL mit ärztlichen Heilbehandlungen „eng verbundene Umsätze“ grundsätzlich nicht4. Keine Heilbehandlung im Bereich der Humanmedizin sind daher ärztliche Leistungen, Maßnahmen oder medizinische Eingriffe, die zu anderen Zwecken erfolgen5.

Dabei steht der Steuerbefreiung nicht entgegen, wenn Leistungen nicht gegenüber Patienten oder Krankenkassen erbracht werden. Denn für die Steuerfreiheit kommt es nicht auf die Person des Leistungsempfängers an, da sich die personenbezogene Voraussetzung der Steuerfreiheit auf den Leistenden bezieht, der Träger eines ärztlichen oder arztähnlichen Berufs sein muss6.

Entgegen der vom Pfleger geforderten generellen Gleichstellung der von ihm erbrachten Leistungen an Alten- und Pflegeheimen mit seinen (unstrittig) steuerfreien Leistungen an Krankenhäuser ist nach der Rechtsprechung des Bundesfinanzhofs7 für die Steuerfreiheit infektionshygienischer Leistungen ein unmittelbarer Bezug zu einer Heilbehandlungstätigkeit in Krankenhäusern oder anderen medizinischen Einrichtungen erforderlich. Die Leistungsempfänger müssen mit den empfangenen Leistungen bei der Ausübung ihrer Heilbehandlungstätigkeit die hierfür bestehenden medizinisch unerlässlichen und gesetzlich vorgeschriebenen infektionshygienischen Anforderungen im Einzelfall erfüllen.

Dass bzw. in welchem Umfang die Alten- und Pflegeheime als Empfänger der Leistungen des Pflegers solche Tätigkeiten ausgeübt haben, konnte der Pfleger im Einzelfall nicht nachweisen und steht daher zur Überzeugung des erkennendas Finanzgerichtes nicht fest. Das Vorliegen einer Heilbehandlung kann ohne Nachweis im Einzelfall – entsprechend den Ausführungen des Bundesfinanzhofs im Urteil vom 05.11.20148 – auch nicht ohne Weiteres zu Gunsten des Pflegers unterstellt werden. Der fehlende Nachweis, dass bzw. in welchem Umfang die Empfänger der Leistungen solche Heilbehandlungen ausgeübt haben, geht zum Nachteil des Pflegers, der sich auf die für ihn günstige Steuerbefreiung beruft.

Die Leistungen des Pflegers sind auch nicht nach § 4 Nr. 14 Buchst. e UStG steuerbefreit.

Nach dieser Vorschrift sind die zur Verhütung von nosokomialen Infektionen und zur Vermeidung der Weiterverbreitung von Krankheitserregern, insbesondere solcher mit Resistenzen, erbrachten Leistungen eines Arztes oder einer Hygienefachkraft an die in § 4 Nr. 14 Buchst. a, b und d UStG genannten Einrichtungen steuerfrei, die diesen dazu dienen, ihre Heilbehandlungsleistungen ordnungsgemäß unter Beachtung der nach dem IfSG und den Rechtsverordnungen der Länder nach § 23 Abs. 8 IfSG bestehenden Verpflichtungen zu erbringen. Unabhängig davon, dass diese Regelung, die durch das Amtshilferichtlinien-Umsetzungsgesetz (AmtshilfeRLUmsG)9 erst mit Wirkung zum 1.07.2013 eingeführt worden ist und damit erst für Besteuerungszeiträume nach dem Streitjahr, würde eine Anwendung vorliegend auch daran scheitern, dass der erforderliche Nachweis, dass die Hygieneleistungen mit konkreten Heilbehandlungen im Zusammenhang stehen; vom Pfleger nicht erbracht wurde.

Die Voraussetzungen für eine Befreiung der Umsätze nach § 4 Nr. 16 Buchst. d oder e UStG sind nicht gegeben. Nach diesen Vorschriften sind die eng mit dem Betrieb von Einrichtungen zur Betreuung oder Pflege körperlich, geistig oder seelische hilfsbedürftiger Personen eng verbundenen Leistungen steuerbefreit, die von Einrichtungen erbracht werden, die Leistungen der häuslichen Krankenpflege oder Haushaltshilfe erbringen (Buchst. d) oder die von Einrichtungen erbracht werden, mit denen eine Vereinbarung nach § 111 SGB IX besteht (Buchst. e). Diese Voraussetzungen liegen entweder nicht vor (keine häusliche Krankenpflege durch die Alten-/Pflegeheime erbracht) oder konnten vom Pfleger nicht nachgewiesen werden, der die strittigen Leistungen gegenüber den Alten-/Pflegeheimen erbracht hat und nicht unmittelbar gegenüber den Heimbewohnern und selbst auch nicht die Voraussetzungen für die in der nationalen Vorschrift genannten Einrichtungen erfüllt. Auch die weiteren Voraussetzungen des § 4 Nr. 16 Satz 2 UStG sind nicht nachgewiesen worden. Aufgrund dessen bedarf es vorliegend auch keiner Entscheidung darüber, wie der Nachweis für die weitere Voraussetzung, dass die Leistungen an hilfsbedürftige Personen erbracht werden, zu führen ist und ob insoweit, wie von der Finanzverwaltung gefordert, für jede betreute oder gepflegte Person deren Hilfsbedürftigkeit beleg- und buchmäßig nachgewiesen werden muss10.

Der Pfleger kann sich jedoch unmittelbar auf die Steuerbefreiung nach Art. 132 Abs. 1 Buchst. g MwStSystRL berufen. Entgegen der Auffassung des Finanzamtes erbringt der Pfleger steuerfreie Leistungen.

Der Ausschluss des Pflegers von der Steuerbefreiung für eng mit der Betreuung oder Pflege hilfsbedürftiger Personen verbundenen Leistungen durch die in § 4 Nr. 16 UStG aufgestellten Voraussetzungen ist nicht mit der in Art. 132 Abs. 1 Buchst. g MwStSystRL geregelten Steuerbefreiung vereinbar. Die Unvereinbarkeit führt zur unmittelbaren Anwendbarkeit der Richtlinienvorschrift, deren Voraussetzungen der Pfleger erfüllt.

Nach der Rechtsprechung des EuGH kann sich ein Steuerpflichtiger vor einem nationalen Gericht auf eine Bestimmung der MwStSystRL berufen11, wenn die entsprechende Bestimmung inhaltlich unbedingt und hinreichend genau ist und die innerstaatliche Regelung mit dieser Bestimmung unvereinbar ist. Der Pfleger hat sich auf die in Art. 132 Abs. 1 Buchst. g MwStSystRL normierte Steuerbefreiung berufen, die nach höchstrichterlicher Rechtsprechung, die durch den erkennendas Finanzgericht geteilt wird, als inhaltlich unbedingt und hinreichend genau angesehen wurde12.

Die nationale Vorschrift des § 4 Nr. 16 UStG setzt Art. 132 Abs. 1 Buchst. g MwStSystRL nicht vollständig um. Der Pfleger fällt, wie bereits unter 3. ausgeführt, nicht in den persönlichen Anwendungsbereich von § 4 Nr. 16 UStG, obwohl er, wie noch auszuführen sein wird, zu den anerkannten Einrichtungen mit sozialem Charakter gehört. § 4 Nr. 16 UStG kann nach Auffassung des erkennendas Finanzgerichts nicht entsprechend den abweichenden Vorgaben des Art. 132 Abs. 1 Buchst. g MwStSystRL richtlinienkonform ausgelegt werden, da es dieser Vorschrift an einer § 4 Nr. 14 Buchst. e UStG vergleichbaren Ausweitung auf begünstigte Hygienefachkräfte fehlt und es im Hinblick auf den persönlichen Anwendungsbereich auch an einem Auffangtatbestand mangelt, so dass die Wortlautgrenze erreicht ist. Eine unionsrechtkonforme Auslegung ist bei Überschreiten der Wortlautgrenze nicht möglich13, sodass die Richtlinienvorgabe des Art. 132 Buchst. g MwStSystRL unmittelbar anwendbar ist.

Nach Art. 132 Abs. 1 Buchst. g MwStSystRL befreien die Mitgliedstaaten „eng mit der Sozialfürsorge und der sozialen Sicherheit verbundene Dienstleistungen …, einschließlich derjenigen, die durch … Einrichtungen des öffentlichen Rechts oder andere von dem betreffenden Mitgliedstaat als Einrichtungen mit sozialem Charakter anerkannte Einrichtungen bewirkt werden“.

Die Steuerbefreiung knüpft an leistungs- und an personenbezogene Voraussetzungen an: Es muss sich um eng mit der Sozialfürsorge oder der sozialen Sicherheit verbundene Leistungen handeln, die von Einrichtungen des öffentlichen Rechts oder anderen Einrichtungen erbracht werden, die von dem betreffenden Mitgliedstaat als Einrichtungen mit im Wesentlichen sozialem Charakter anerkannt worden sind14.

Die Hygieneleistungen des Pflegers sind „eng mit der Sozialfürsorge und der sozialen Sicherheit verbundene Dienstleistungen“.

Hierbei handelt es sich um einen eigenständigen Begriff des Unionsrechts, der eine unionsrechtliche Definition erfordert15. Gleichwohl hat der Unionsgerichtshof diesen Begriff in zunächst in seiner Rechtsprechung weder definiert noch näher umschrieben, sondern sich darauf beschränkt, für die jeweils streitgegenständlichen Tätigkeiten zu entscheiden, ob diese unter die Steuerbefreiung nach Art. 132 Abs. 1 Buchst. g MwStSystRL fallen. Zu den nach bisheriger EuGH-Rechtsprechung befreiten Umsätzen gehören insbesondere der Betrieb von Heimen für betreutes Wohnen16, Leistungen der ambulanten Pflege17, Leistungen der Grundpflege und der hauswirtschaftliche Versorgung für körperlich oder wirtschaftlich hilfsbedürftige Personen18, das Einkaufen, Kochen, Reinigen der Wohnung und das Waschen der Kleidung19, die Gestellung einer Haushaltshilfe20, Leistungen der Kinderbetreuung21, Legasthenie-Behandlungen im Rahmen der Eingliederungshilfe22 oder Betreuungsleistungen23.

Spätestens seit der Entscheidung des Gerichtshofs der Europäischen Union vom 08.10.202024 ist (über den konkreten Einzelfall hinaus) abstrakt geklärt, dass die Leistungen dann eng mit der Sozialfürsorge und der sozialen Sicherheit verbunden sind, wenn die fraglichen Dienstleistungen für die Durchführung der Maßnahmen der Sozialfürsorge und der sozialen Sicherheit als solche unerlässlich sind. Dies ist der Fall, sofern ihre Belastung mit Mehrwertsteuer zwangsläufig dazu führen würde, die Kosten der genannten Umsätze zu erhöhen.

Zwar sind die Begriffe, mit denen die in Art. 132 MwStSystRL vorgesehenen Steuerbefreiungen umschrieben sind, eng auszulegen. Die Auslegung dieser Begriffe muss jedoch mit den Zielen im Einklang stehen, die mit den Befreiungen verfolgt werden, und den Erfordernissen des Grundsatzes der steuerlichen Neutralität entsprechen, auf dem das gemeinsame Mehrwertsteuersystem beruht. Diese Regel einer engen Auslegung bedeutet also nicht, dass die zur Definition der Steuerbefreiungen im Sinne von Art. 132 verwendeten Begriffe in einer Weise auszulegen sind, die den Befreiungen ihre Wirkung nähme25. Was den Zweck angeht, der mit der in Art. 132 Abs. 1 Buchst. g MwStSystRL vorgesehenen Steuerbefreiung verfolgt wird, so zielt diese Befreiung dadurch, dass sie für bestimmte im sozialen Sektor erbrachte Leistungen, die dem Gemeinwohl dienen, eine günstigere Mehrwertsteuerbehandlung gewährt, darauf ab, die Kosten dieser Leistungen zu senken und dadurch diese Leistungen dem Einzelnen, der sie in Anspruch nehmen könnte, zugänglicher zu machen26.

Was als Erstes die Voraussetzung anbelangt, dass die Dienstleistungen eng mit der Sozialfürsorge und der sozialen Sicherheit verbunden sein müssen, so ist diese Voraussetzung im Licht von Art. 134 Buchst. a MwStSystRL zu betrachten, wonach die betreffenden Lieferungen von Gegenständen bzw. Dienstleistungen jedenfalls für die der Sozialfürsorge und der sozialen Sicherheit unterfallenden Umsätze unerlässlich sein müssen27.

So hat z.B. in Bezug auf die Tätigkeit des Medizinischen Dienstes einer Pflegekasse (MDK) der Gerichtshof der Europäischen Union und nachfolgend der Bundesfinanzhof entschieden, dass auch das Erbringen von gutachterlichen Leistungen -selbst wenn sie durch einen Subunternehmer im Auftrag eines MDK erbracht werden- eng mit der Sozialfürsorge und der sozialen Sicherheit verbundene Umsätze sind28. Der Gerichtshof der Europäischen Union hat in diesem Zusammenhang ausgeführt, dass, wie aus der Erwähnung der durch Altenheime erbrachten Dienstleistungen in Art. 132 Abs. 1 Buchst. g MwStSystRL hervorgeht, die in dieser Vorschrift vorgesehene Steuerbefreiung u. a. für Unterstützungs- und Versorgungsleistungen gilt, die unmittelbar den von den betreffenden Maßnahmen der Sozialfürsorge und der sozialen Sicherheit erfassten Personen zugutekommen, aber weder der Wortlaut dieser Vorschrift noch ihr Zweck Anhaltspunkte dafür geben, dass von dieser Steuerbefreiung solche Dienstleistungen ausgeschlossen wären, die, ohne unmittelbar an die genannten Personen erbracht zu werden, gleichwohl für die Umsätze im Bereich der Sozialfürsorge und der sozialen Sicherheit unerlässlich sind .

Die hier zu beurteilenden strittigen Hygieneleistungen des Pflegers sind danach unerlässlich für die der Sozialfürsorge und der sozialen Sicherheit unterfallenden Umsätze der Alten- und Pflegeheime.

Die Einhaltung hygienischer Anforderungen ist gerade in Alten-/Pflegeheimen unerlässlich, wie insbesondere während der noch andauernden Corona-Pandemie mehr als deutlich geworden ist. Gerade Bewohner in Alten-/Pflegeheimen, die ohnehin alters- und/oder krankheitsbedingt für Infektionen anfälliger sind und bei denen der Infektionsverlauf oftmals schwerer verläuft, sind besonders schutzbedürftig. Aufgrund nicht sachgerechter oder unzureichender Hygienemaßnahmen waren und sind sie von der Pandemie überproportional zur Gesamtbevölkerung besonders getroffen. Ausreichende Hygieneregelung, deren Erstellung und Überwachung sind in den Alten-/Pflegeheimen zur Erhaltung der Gesundheit deren Bewohner unerlässlich.

Auch steht die Tatsache, dass der Pfleger seine Hygienefachleistungen nicht gegenüber den Alten- und Pflegeheimbewohner selbst, sondern gegenüber den Betreibern der Alten- und Pflegeheimen erbracht hat, der Annahme eng mit der Sozialfürsorge und der sozialen Sicherheit verbundener Leistungen nicht entgegen.

Der Pfleger ist auch eine „andere von dem betreffenden Mitgliedstaat als Einrichtungen mit sozialem Charakter anerkannte Einrichtungen“ im Sinne von Art. 132 Abs. 1 Buchst. g MwStSystRL.

Art. 132 Abs. 1 Buchst. g MwStSystRL legt weder die Voraussetzungen noch die Modalitäten einer Anerkennung des sozialen Charakters von anderen Einrichtungen als solchen des öffentlichen Rechts fest. Es ist daher grundsätzlich Sache des innerstaatlichen Rechts jedes Mitgliedstaats, die Regeln aufzustellen, nach denen diesen Einrichtungen eine solche Anerkennung gewährt werden kann, wobei die Mitgliedstaaten über ein Ermessen verfügen29.

Aus der Rechtsprechung des EuGH ergibt sich zunächst, dass auch eine natürliche Person eine „Einrichtung“ sein kann30. Weiter ergibt sich aus der Rechtsprechung des EuGH, dass die nationalen Behörden bei der Anerkennung des sozialen Charakters von Einrichtungen, die keine Einrichtungen des öffentlichen Rechts sind, im Einklang mit dem Unionsrecht und unter der Kontrolle der nationalen Gerichte mehrere Gesichtspunkte zu berücksichtigen haben. Zu ihnen können das Bestehen spezifischer Vorschriften – seien es nationale oder regionale, Rechts- oder Verwaltungsvorschriften, Steuervorschriften oder Vorschriften im Bereich der sozialen Sicherheit, das mit den Tätigkeiten des betreffenden Steuerpflichtigen verbundene Gemeinwohlinteresse, die Tatsache, dass andere Steuerpflichtige mit den gleichen Tätigkeiten bereits in den Genuss einer ähnlichen Anerkennung kommen, und der Gesichtspunkt zählen, dass die Kosten der fraglichen Leistungen unter Umständen zum großen Teil von Krankenkassen oder anderen Einrichtungen der sozialen Sicherheit übernommen werden, insbesondere, wenn die privaten Wirtschaftsteilnehmer vertragliche Beziehungen zu diesen Einrichtungen unterhalten31.

Dabei haben die nationalen Behörden im Einklang mit dem Unionsrecht und unter der Kontrolle der nationalen Gerichte die für die Anerkennung maßgeblichen Gesichtspunkte zu berücksichtigen32. Zu diesen gehören

  • das Bestehen spezifischer Vorschriften, bei denen es sich um nationale oder regionale Rechts- oder Verwaltungsvorschriften, Steuervorschriften oder Vorschriften im Bereich der sozialen Sicherheit handeln kann,
  • das mit den Tätigkeiten des betreffenden Steuerpflichtigen verbundene Gemeinwohlinteresse,
  • die Tatsache, dass andere Steuerpflichtige mit den gleichen Tätigkeiten bereits in den Genuss einer ähnlichen Anerkennung kommen, und
  • die Übernahme der Kosten der fraglichen Leistungen zum großen Teil durch Krankenkassen oder durch andere Einrichtungen der sozialen Sicherheit33.

Diese für die Anerkennung maßgeblichen Kriterien müssen nicht kumulativ vorliegen34.

Das Finanzgericht Münster stützt seine Auffassung, wonach der Pfleger eine als Einrichtung mit sozialem Charakter anzuerkennen ist, auf folgende Erwägungen:

Es bestehen spezifische Vorschriften, die den Tätigkeitsbereich des Pflegers – zumindest mittelbar – regeln.

Die Tätigkeit des Pflegers ermöglicht es den jeweiligen Heimbetreibern, ihren gesetzlichen Verpflichtungen aus § 11 Abs. 1 HeimG nachzukommen. Danach ist es u.a. Aufgabe des Trägers und der Leitung, einen ausreichenden Schutz vor Infektionen zu gewährleisten und sicherzustellen, dass von den Beschäftigten die für ihren Aufgabenbereich einschlägigen Anforderungen der Hygiene eingehalten werden (§ 11 Abs. 1 Nr. 9 HeimG). Konkret dient die Tätigkeit des Pflegers der Umsetzung der Empfehlungen der beim Robert-Koch-Institut eingerichteten Kommission für Krankenhaushygiene und Infektionsprävention „Infektionsprävention in Heimen“35.

Die Tätigkeit des Pflegers ist von überragendem Gemeinwohlinteresse.

Nach Auffassung des Finanzgerichts besteht – wie gerade die hohen Sterblichkeitsraten in den Alten-/Pflegeheimen während der Corona-Pandemie gezeigt haben – ein überragendes Gemeinwohlinteresse an der Einhaltung höchster hygienischer Standards in den Alten- und Pflegeheimen.

Die Steuerbefreiung ist nicht nach Art. 134 MwStSystRL ausgeschlossen, da die dort genannten Voraussetzungen im Streitfall nicht gegeben sind.

Finanzgericht Münster, Urteil vom 1. Juni 2021 – 15 K 2712/17 U

  1. BFH, Urteil vom 05.11.2014 – XI R 11/13, BFHE 248, 389, HFR 2015, 156[]
  2. EuGH, Urteil „Dornier“ vom 06.11.2003 – C-45/01, EU:C:2003:595, Rz 42, 48[]
  3. vgl. z.B. EuGH, Urteil „Klinikum Dortmund“ vom 13.03.2014 – C-366/12, EU:C:2014:143, Rz 30, m.w.N.; BFH, Urteile vom 18.03.2015 – XI R 15/11, BFHE 249, 359, BStBl II 2015, 1058; vom 08.03.2012 – V R 30/09, BFHE 237, 263, BStBl II 2012, 623; vom 26.08.2014 – XI R 19/12, BFHE 247, 246, BStBl II 2015, 310; vom 05.11.2014 – XI R 11/13, BFHE 248, 389, BFH/NV 2015, 297, jeweils m.w.N.[]
  4. vgl. EuGH, Urteil Klinikum Dortmund, EU:C:2014:143, Rz 32; BFH, Urteil in BFHE 249, 359, BStBl II 2015, 1058, Rz 21[]
  5. z.B. BFH, Urteile vom 18.08.2011 – V R 27/10, BFHE 235, 58, BFH/NV 2011, 2214; vom 30.04.2009 – V R 6/07, BFHE 225, 248, BStBl II 2009, 679[]
  6. vgl. z.B. BFH, Urteil vom 08.08.2013 – V R 8/12, BFHE 242, 548, BFH/NV 2014, 119[]
  7. BFH, Urteil vom 05.11.2014 – XI R 11/13, BFHE 248, 389, HFR 2015, 156, Rz 43[]
  8. BFH, Urteil vom 05.11.2014 – XI R 11/13, BFHE 248, 389, HFR 2015, 156, Rzn. 45 ff.[]
  9. vom 26.06.2013, BGBl I 2013, 1809[]
  10. vgl. hierzu Abschn. 4.16.2 UStAE[]
  11. vgl. z.B. EuGH, Urteile „Kügler“ vom 10.09.2002 – C-141/00, EU:C:2002:473, Rz 51; und „Zimmermann“ vom 15.11.2012 – C-174/11, EU:C:2012:716, Rz 32; BFH, Urteile vom 19.10.2011 – XI R 16/09, BFHE 235, 532, BStBl II 2012, 371, Rz 24 f.; vom 16.10.2013 – XI R 19/11, BFH/NV 2014, 190, Rz 21; vom 29.07.2015 – XI R 35/13, BFHE 251, 91, BStBl II 2016, 797, Rz 15; und vom 16.09.2015 – XI R 27/13, BFH/NV 2016, 252, Rz 37; BFH, Beschluss vom 31.07.2019 – XI B 15/19, BFH/NV 2019, 1259[]
  12. vgl. z.B. BFH, Urteil vom 25.04.2013 – V R 7/11, BFHE 241, 475, BStBl II 2013, 976[]
  13. vgl. zur Maßgeblichkeit der Wortlautgrenze: BFH, Urteil vom 11.10.2012 – V R 9/10, BFHE 238, 570, BStBl II 2014, 279[]
  14. vgl. BFH, Urteile vom 18.08.2005 – V R 71/03, BFHE 211, 543, BStBl II 2006, 143, unter II. 2.d cc, Rz 45 und 46; vom 07.12.2016 – XI R 5/15, BFHE 256, 550; EuGH, Urteil „Kingscrest Associates und Montecello“ vom 26.05.2005 – C-498/03, EU:C:2005:322, Rz 34[]
  15. vgl. EuGH, Urteil „Kingscrest Associates und Montecello“ vom 26.05.2005 – C-498/03, EU:C:2005:322, Rz 22, m.w.N.[]
  16. EuGH, Urteil „Kingscrest Associates Ltd. und Montecello Ltd.“, EU:C:2005:322[]
  17. vgl. EuGH, Urteil „Zimmermann“, EU:C:2012:716, Rz 24[]
  18. vgl. EuGH, Urteil „Kügler“, EU:C:2002:473, Rz 44; BFH, Urteil vom 18.01.2005 – V R 99/01, BFH/NV 2005, 1392, unter II. 2.g, Rz 25[]
  19. vgl. BFH, Urteil vom 22.04.2004 – V R 1/98, BFHE 205, 514, BStBl II 2004, 849, unter II. 2.a, Rz 36[]
  20. vgl. BFH, Urteil vom 30.07.2008 – XI R 61/07, BFHE 222, 134, BStBl II 2009, 68, unter II. 1.b, Rz 13[]
  21. vgl. EuGH, Urteil vom 09.02.2006, Kinderopvang Enschede, – C-415/04, EU:C:2006:95, Rz 27[]
  22. vgl. BFH, Urteile in BFHE 211, 543, BStBl II 2006, 143, unter II. 2.d cc (1), Rz 48; vom 01.02.2007 – V R 34/05, BFH/NV 2007, 1201, unter II. 2.g, Rz 28[]
  23. vgl. BFH, Urteile vom 17.02.2009 – XI R 67/06, BFHE 224, 183, BStBl II 2013, 967; vom 25.04.2013 – V R 7/11, BFHE 241, 475, BStBl II 2013, 976, Rz 17; in BFH/NV 2014, 190[]
  24. EuGH, Urteil „Finanzamt D“ vom 08.10.2020 – C-657/19, EU:C:2020:811, Rz 36 und 39[]
  25. EuGH, Urteil „Finanzamt D“ vom 08.10.2020 – C-657/19, EU:C:2020:811, Rz. 28 unter Verweis auf EuGH, Urteil „Zimmermann“ vom 15.11.2012 – C-174/11, EU:C:2012:716, Rz 22 und die dort angeführte Rechtsprechung[]
  26. vgl. in diesem Sinne EuGH, Urteil „Les Jardins de Jouvence“ vom 21.01.2016 – C-335/14, EU:C:2016:36, Rz 41[]
  27. EuGH, Urteile „Finanzamt D“ vom 08.10.2020 – C-657/19, EU:C:2020:811, Rz 31; und „Stichting Kinderopvang Enschede“ vom 09.02.2006 – C-415/04, EU:C:2006:95, Rz 24 und 25[]
  28. vgl. EuGH, Urteil „Finanzamt D“ vom 08.10.2020 – C-657/19, EU:C:2020:811, HFR 2020, 1205, Rz 34; BFH, Urteil vom 24.02.2021 – XI R 30/20 (XI R 11/17), DB 2021, 1513[]
  29. vgl. in diesem Sinne EuGH, Urteil „Les Jardins de Jouvence“ vom 21.01.2016 – C-335/14, EU:C:2016:36, Rz 32 und 34[]
  30. EuGH, Urteil „Zimmermann“ vom 15.11.2012 – C-174/11, EU:C:2012:716[]
  31. EuGH, Urteile „Finanzamt D“ vom 08.10.2020 – C-657/19, EU:C:2020:811, Rz 44 ; „Kügler“ vom 10.09.2002 – C-141/00, EU:C:2002:473, Rz 58; und „Les Jardins de Jouvence“ vom 21.01.2016 – C-335/14, EU:C:2016:36, Rz 35[]
  32. vgl. BFH, Urteil in BFHE 256, 550, Rz 29[]
  33. vgl. EuGH, Urteil „Finanzamt D“, EU:C:2020:811, Rz 44, m.w.N.[]
  34. vgl. BFH, Urteile vom 25.04.2013 – V R 7/11, BFHE 241, 475, BStBl II 2013, 976, Rz 28; vom 06.04.2016 – V R 55/14, BFHE 253, 466, Rz 37; in BFHE 256, 550, Rz 33[]
  35. Kommission für Krankenhaushygiene und Infektionsprävention, Infektionsprävention in Heimen. Bundesgesundheitsbl – Gesundheitsforsch – Gesundheitsschutz, 2005. 48: p. 1061-1080[]