Im Rahmen der zollrechtlichen Auslegung von § 12 Abs. 2 Nr. 1 i.V.m. Anlage 2 zum UStG ist der Verwendungszweck nur dann von Bedeutung, wenn er dem Erzeugnis nach seinen objektiven Merkmalen und Eigenschaften innewohnt, wobei übliche Verpackungen außer Betracht bleiben. Zur Verneinung der Steuersatzermäßigung reicht es daher nicht aus, dass sog. Werbelebensmittel unabhängig hiervon zu Werbezwecken geliefert werden.
In dem hier vom Bundesfinanzhof entschiedenen Fall ging um einen Handel für Werbeartikel. Zu den Werbelebensmitteln, die der klagende Händler in seinem Sortiment führte, zählten z.B. Fruchtgummis, Pfefferminz- und Brausebonbons, Popcorn, Kekse, Glückskekse, Schokolinsen, Teebeutel, Kaffee und Traubenzuckerwürfel, die jeweils in kleinen Abpackungen angeboten wurden. Die Kunden konnten die Waren nach ihren Wünschen individualisiert beziehen. Die Individualisierung erfolgte durch eine bestimmte Umverpackung sowie Aufdrucke, Gravuren oder Ähnlichem. Der Händler selbst nahm keine Individualisierung der Waren vor. Er bezog die Gegenstände nach den Kundenwünschen von seinen Lieferanten oder ließ sie von Dritten veredeln. In seiner Umsatzsteuer-Voranmeldung für Dezember 2017 erklärte der Händler Lieferungen von Lebensmitteln zum ermäßigten Steuersatz. Im Anschluss an eine Umsatzsteuersonderprüfung ging das Finanzamt im geänderten Umsatzsteuer-Vorauszahlungsbescheid Dezember 2017 sowie anschließend im Umsatzsteuerbescheid 2017 davon aus, dass die Veräußerung der Werbelebensmittel eine sonstige Leistung in Form einer Werbeleistung sei, die dem Regelsteuersatz unterliege.
Die hiergegen gerichtete Klage des Werbeartikelhändlers blieb vor dem Finanzgericht Berlin-Brandenburg ohne Erfolg1. Der ermäßigte Steuersatz gemäß § 12 Abs. 2 Nr. 1 UStG sei, so das Finanzgericht, nicht anzuwenden, weil der Händler keine Gegenstände i.S. der Anlage 2 zum UStG, sondern -was auf der Grundlage einer qualitativen Betrachtung aus Sicht der Kunden des Händlers zu beurteilen sei- Werbeartikel geliefert habe, die aus der Verbindung von Lebensmitteln mit einer für den jeweiligen Kunden individualisierten Verpackung entstanden seien.
Auf die Revision des Händlers hat der Bundesfinanzhof das finanzgerichtliche Urteil aufgehoben und das Verfahren zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung an das Finanzgericht Berlin-Brandenburg zurückverwiesen; das Finanzgericht habe die Steuersatzermäßigung des § 12 Abs. 2 Nr. 1 i.V.m. der Anlage 2 zum UStG zu Unrecht versagt. Es habe zwar in revisionsrechtlich nicht zu beanstandender Weise entschieden, dass es sich bei den Umsätzen des Händlers um Lieferungen i.S. von § 3 Abs. 1 UStG handelt, bei seiner Entscheidung aber nicht beachtet, dass nach den von der Anlage 2 zum UStG in Bezug genommenen zollrechtlichen Vorschriften grundsätzlich auf die objektiven Eigenschaften der Liefergegenstände abzustellen sei und insoweit „übliche“ Verpackungen außer Betracht bleiben:
Nach § 12 Abs. 2 Nr. 1 UStG unterliegt die Lieferung der in der Anlage 2 zum UStG genannten Gegenstände dem ermäßigten Steuersatz.
Unionsrechtliche Grundlage für den Bereich der Lebensmittel ist Art. 98 Abs. 1 und 2 Unterabs. 1 i.V.m. Anh. III Nr. 1 der Richtlinie 2006/112/EG des Rates vom 28.11.2006 über das gemeinsame Mehrwertsteuersystem (MwStSystRL) i.d.F. von Art. 2 Nr. 2 der Richtlinie 2008/8/EG des Rates vom 12.02.2008 zur Änderung der Richtlinie 2006/112/EG bezüglich des Ortes der Dienstleistung2. Danach können die Mitgliedstaaten einen ermäßigten Steuersatz insbesondere für Nahrungsmittel anwenden.
Zur Bestimmung der Gegenstände, die zum ermäßigten Steuersatz geliefert werden können, enthält die Anlage 2 zum UStG in der zweiten Spalte die „Warenbezeichnung“. In der dritten Spalte verweist sie auf Kapitel, Positionen und Unterpositionen des Zolltarifs. Hierbei handelt es sich um die Kombinierte Nomenklatur -KN-3. Unionsrechtlich beruht diese Bezugnahme auf Art. 98 Abs. 3 MwStSystRL in der bis zur Richtlinie (EU) 2022/542 des Rates vom 05.04.2022 zur Änderung der Richtlinien 2006/112/EG und (EU) 2020/285 in Bezug auf die Mehrwertsteuersätze4 geltenden Fassung. Danach waren die Mitgliedstaaten befugt, zur Anwendung der ermäßigten Steuersätze die betreffenden Kategorien von Gegenständen anhand der KN genau abzugrenzen.
Soweit die Anlage 2 zum UStG auf das Zolltarifrecht Bezug nimmt, ist sie ohne Berücksichtigung umsatzsteuerrechtlicher Merkmale zolltariflich auszulegen5.
Die zollrechtliche Tarifierung richtet sich nach den objektiven Merkmalen und Eigenschaften der Waren, wie sie im Wortlaut der Positionen und Unterpositionen sowie in den Anmerkungen zu den entsprechenden Abschnitten oder Kapiteln der KN festgelegt sind6.
Dabei kann der Verwendungszweck eines Erzeugnisses ein objektives Tarifierungskriterium sein, sofern er dem Erzeugnis innewohnt, was anhand seiner objektiven Merkmale und Eigenschaften zu beurteilen ist7. Er darf jedoch nur berücksichtigt werden, wenn die Tarifierung nicht allein auf der Grundlage der objektiven Merkmale und Eigenschaften eines Erzeugnisses erfolgen kann8.
Außerdem sind die Allgemeinen Vorschriften für die Auslegung der Kombinierten Nomenklatur -AV-9 zu beachten. Für den Streitfall ist insbesondere die AV 5 Buchst. b Satz 1 in den Blick zu nehmen. Danach werden Verpackungen -vorbehaltlich der AV 5 Buchst. a- wie die darin enthaltenen Waren eingereiht, wenn sie zur Verpackung dieser Waren üblich sind. Übliche Verpackungen sind solche, die entweder für die Verwendung der fraglichen Ware unbedingt notwendig sind, oder Verpackungen, die üblicherweise zur Vermarktung und Verwendung der darin enthaltenen Waren genutzt werden10. Derartige Verpackungen dienen u.a. dem Schutz des Packguts bei Transport, Umschlag und Lagerung sowie der Aufmachung für den Einzelverkauf, wobei sie im letzteren Fall zusätzliche Funktionen haben können11.
Das Urteil des Finanzgericht verstößt gegen § 12 Abs. 2 Nr. 1 i.V.m. Anlage 2 zum UStG, da es die zolltarifliche Auslegung außer Acht gelassen hat, nach der der Verwendungszweck nur dann von Bedeutung ist, wenn er dem Erzeugnis nach seinen objektiven Merkmalen und Eigenschaften innewohnt, wobei übliche Verpackungen entsprechend den sich aus der AV 5 Buchst. b ergebenden Voraussetzungen außer Betracht bleiben. Damit nicht vereinbar ist die Annahme des Finanzgericht, zur Versagung der Steuersatzermäßigung reiche es unabhängig hiervon aus, dass die Werbelebensmittel -anders als Lebensmittel aus dem Lebensmittelhandel- nicht vorwiegend zum Zweck des Verzehrs, sondern zu Werbezwecken geliefert werden.
Die Sache ist wegen fehlender Feststellungen des Finanzgericht nicht spruchreif. Das Finanzgericht wird im zweiten Rechtsgang Feststellungen zu den genauen Eigenschaften der Werbelebensmittel und ihren Verpackungen treffen müssen.
Auf dieser Grundlage wird zunächst zu prüfen sein, ob die Verpackungen der Werbelebensmittel nach der AV 5 Buchst. b separat zu tarifieren oder ebenso wie das Packgut einzureihen sind. Der Bundesfinanzhof weist insoweit vorsorglich und ohne Bindung nach § 126 Abs. 5 FGO darauf hin, dass die nach der AV 5 Buchst. b maßgebliche Üblichkeit der Verpackung nicht zwingend durch die zusätzliche Aufnahme eines Werbeaufdrucks entfällt. Zudem kann sich eine gemeinsame Einreihung der Verpackung mit dem Packgut daraus ergeben, dass es sich um eine Warenzusammenstellung i.S. der AV 3 Buchst. b handelt.
Sodann sind zur gemeinsamen oder separaten Tarifierung die Werbelebensmittel auf der Grundlage ihrer zu ermittelnden genauen Beschaffenheitsmerkmale nach den unter III. 1. dargelegten Grundsätzen in eine laufende Nummer der Anlage 2 zum UStG einzuordnen. Hierbei sind die Erläuterungen zur KN und die Erläuterungen zum Harmonisierten System maßgebende, wenn auch nicht rechtsverbindliche Hilfsmittel für die Auslegung der einzelnen Tarifpositionen12. Sofern mehrere Tarifpositionen in Betracht kommen, die sämtlich von der Anlage 2 zum UStG in Bezug genommen werden, kann offen bleiben, in welche davon eine Ware einzureihen ist13.
Sofern Werbelebensmittel nicht von der Anlage 2 zum UStG erfasst, jedoch Nahrungsmittel i.S. von Anh. III Nr. 1 MwStSystRL14 sein sollten, käme ggf. eine erweiternde richtlinienkonforme Auslegung der Anlage 2 zum UStG am Maßstab des Neutralitätsgrundsatzes15 in Betracht.
Bundesfinanzhof, Urteil vom 23. Februar 2023 – V R 38/21
- FG Berlin-Brandenburg, Urteil vom 29.09.2021 – 2 K 2211/20, EFG 2022, 446[↩]
- ABl.EU 2008, Nr. L 44, 11[↩]
- Anh. I der Verordnung (EWG) Nr. 2658/87 des Rates vom 23.07.1987 über die zolltarifliche und statistische Nomenklatur sowie den Gemeinsamen Zolltarif, ABl.EG 1987, Nr. L 256, 1[↩]
- ABl.EU 2022, Nr. L 107, 1[↩]
- ständige Rechtsprechung, vgl. BFH, Urteile vom 20.02.1990 – VII R 172/84, BFHE 160, 342, BStBl II 1990, 760, unter II.; vom 26.02.1991 – VII R 127/89, BFH/NV 1991, 779, unter II. 2.; vom 28.06.2000 – V R 63/99, BFH/NV 2001, 348, unter II. 1.; BFH, Beschluss vom 28.12.2005 – V B 95/05, BFH/NV 2006, 840, unter II. 4.; BFH, Urteile vom 09.02.2006 – V R 49/04, BFHE 213, 88, BStBl II 2006, 694, unter II. 3.a; vom 18.12.2008 – V R 55/06, BFHE 223, 539, unter II. 3.e; vom 14.06.2016 – VII R 12/15, BFH/NV 2016, 1594, Rz 11; und vom 21.04.2022 – V R 2/22 (V R 6/18), BFHE 276, 400, Rz 20, 25[↩]
- BFH, Urteile vom 03.02.2004 – VII R 33/03, BFH/NV 2004, 849, unter II. 2.a; in BFHE 223, 539, unter II. 3.e; BFH, Beschlüsse vom 28.04.2014 – VII R 48/13, BFH/NV 2014, 1794, Rz 29; und vom 07.07.2020 – VII R 44/18, BFHE 270, 275, Rz 38; Urteile des Gerichtshofs der Europäischen Union -EuGH- Mikrot?kls vom 20.10.2022 – C-542/21, EU:C:2022:814, Rz 22; PRODEX vom 28.04.2022 – C-72/21, EU:C:2022:312, Rz 28; KAHL und Roeper vom 28.10.2021 – C-197/20 und – C-216/20, EU:C:2021:892, Rz 31; Kreyenhop & Kluge vom 06.09.2018 – C-471/17, EU:C:2018:681, Rz 36; Rohm Semiconductor vom 20.11.2014 – C-666/13, EU:C:2014:2388, Rz 24; Sysmex Europe vom 17.07.2014 – C-480/13, EU:C:2014:2097, Rz 29[↩]
- BFH, Urteile vom 13.01.2015 – VII R 25/13, BFH/NV 2015, 712, Rz 6, m.w.N., und in BFH/NV 2016, 1594, Rz 13; EuGH, Urteile Mikrot?kls, EU:C:2022:814, Rz 22; PRODEX, EU:C:2022:312, Rz 28; Hydro Energo vom 18.06.2020 – C-340/19, EU:C:2020:488, Rz 35; TDK-Lambda Germany vom 05.09.2019 – C-559/18, EU:C:2019:667, Rz 27[↩]
- EuGH, Urteile TDK-Lambda Germany, EU:C:2019:667, Rz 27; Oniors Bio vom 28.04.2016 – C-233/15, EU:C:2016:305, Rz 33; Skoma-Lux vom 16.12.2010 – C-339/09, EU:C:2010:781, Rz 47; Industriemetall LUMA GmbH vom 16.12.1976 – 38/76, EU:C:1976:190, Rz 7; vgl. auch BFH, Urteil vom 30.06.2020 – VII R 40/18, BFH/NV 2021, 203, Rz 11 f.[↩]
- im Streitjahr: Anh. I Teil I Titel I Abschn. A der KN i.d.F. der Durchführungsverordnung (EU) 2016/1821 der Kommission vom 06.10.2016 zur Änderung des Anhangs I der Verordnung (EWG) Nr. 2658/87 des Rates über die zolltarifliche und statistische Nomenklatur sowie den Gemeinsamen Zolltarif, ABl.EU 2016, Nr. L 294, 1[↩]
- EuGH, Urteil Utopia vom 20.11.2014 – C-40/14, EU:C:2014:2389, Rz 40[↩]
- BFH, Urteil vom 17.11.1998 – VII R 50/97, BFH/NV 1999, 688, unter II. 2.b; Schmölz, Zeitschrift für Zölle und Verbrauchsteuern 1992, 308, 313[↩]
- BFH, Urteile vom 30.07.2003 – VII R 40/01, BFH/NV 2004, 835, unter II.a; vom 04.11.2003 – VII R 58/02, BFHE 204, 375, unter II. 2.b; in BFH/NV 2004, 849, unter II. 2.a, und in BFHE 213, 88, BStBl II 2006, 694, unter II. 2.b; EuGH, Urteile Mikrot?kls, EU:C:2022:814, Rz 23; PRODEX, EU:C:2022:312, Rz 29; MIS vom 09.06.2016 – C-288/15, EU:C:2016:424, Rz 23; Rohm Semiconductor, EU:C:2014:2388, Rz 25; Sysmex Europe, EU:C:2014:2097, Rz 30, m.w.N.[↩]
- vgl. BFH, Urteil vom 18.02.2009 – V R 90/07, BFHE 225, 210, unter II. 3.a[↩]
- vgl. EuGH, Urteil Staatssecretaris van Financiën [Ermäßigter Steuersatz für Aphrodisiaka] vom 01.10.2021 – C-331/19, EU:C:2020:786, Rz 22 ff.; BFH, Beschluss vom 06.05.2022 – V S 7/21 (AdV), BFH/NV 2022, 1067, Rz 14 f.[↩]
- BFH, Urteil in BFHE 276, 400[↩]