Karlsruhe und der Europäische Haftbefehl

Vor dem Bundesverfassungsgericht war jetzt Verfassungsbeschwerde gegen die Auslieferungsentscheidungen erfolgreich, die aufgrund eines in Griechenland ausgestellten Europäischen Haftbefehls ergangen waren. Das Bundesverfassungsgericht betont dabei zwar, mit seiner seiner Entscheidung nicht prinzipiell die Auslieferung eines deutschen Staatsangehörigen aufgrund eines Europäischen Haftbefehls beanstandet zu haben. Die Entscheidungsgründe machen jedoch deutlich, das der EU-Rahmenbeschluss des Rates über den Europäischen Haftbefehl sowie die deutschen Bestimmung zu seiner Umsetzung nach Auffassung der Karslruher Verfassungsrichter nur restriktiv angewendet gehören.

Karlsruhe und der Europäische Haftbefehl

Der Beschwerdeführer des jetzt vom Bundesverfassungsgerichts entschiedenen Falls besitzt sowohl die deutsche wie auch die griechische Staatsangehörigkeit. Wegen des Verdachts der Bestechung im geschäftlichen Verkehr sowie Geldwäsche haben die griechischen Behörden auf der Grundlage eines Europäischen Haftbefehls um seine Festnahme zur Sicherung der Auslieferung nach Griechenland ersucht. Im Anschluss an die vorläufige Festnahme des Beschwerdeführers erklärte das Oberlandesgericht München seine Auslieferung für zulässig und die Generalstaatsanwaltschaft München entschied anschließend, seine Auslieferung zu bewilligen. Mit seiner Verfassungsbeschwerde wandte sich der Beschwerdeführer gegen die beiden Entscheidungen.

Das Bundesverfassungsgericht hat die Verfassungsbeschwerde des Beschwerdeführers angenommen und ihnen stattgegeben, soweit dieser eine Verletzung seines aus Art. 16 Abs. 2 Satz 1 GG folgenden Grundrechts auf Schutz vor Auslieferung rügt. Die Entscheidungen begründen, so das Bundesverfassungsgericht in seiner Entscheidung, einen Verfassungsverstoß und wurden aufgehoben. Damit ist über die Auslieferung nicht endgültig entschieden. Vielmehr sind die zuständigen Stellen zu einer neuen Entscheidung aufgerufen, auch wenn das BVerfG in seinen Entscheidungsgründen, in denen die jetzt aufgehobene Entscheidung des OLG als nahezu willkürlich beurteilt wird, für eine positive Auslieferungsentscheidung so gut wie keinen Raum mehr läßt.

In der verfassungsgerichtlichen Rechtsprechung ist anerkannt, dass die grenzüberschreitenden europäischen Strafverfolgungsinteressen mit dem Schutzanspruch der betroffenen Grundrechtsträger aus Art. 16 Abs. 2 Satz 1 GG jeweils in Ausgleich gebracht werden müssen. Zu dieser grundrechtlichen Gewährleistung zählen vor allem hohe Anforderungen an die Rechtssicherheit im innerstaatlichen Auslieferungsverfahrensrecht.

Für die Frage der Rechtsicherheit im Auslieferungsverfahren ist im vorliegenden Fall maßgeblich zu berücksichtigen, dass die Auslieferung für Taten, bei der auch die deutsche Gerichtsbarkeit begründet ist, nur dann erfolgen kann, wenn die Verfolgung nach deutschem Recht noch nicht verjährt ist. Laufende Verjährungsfristen können zwar durch Ermittlungsmaßnahmen unterbrochen werden, deutsche Strafverfolgungsbehörden hatten aber derlei Maßnahmen nicht vorgenommen. Ermittelt hatten lediglich die griechischen Behörden.

Entscheidend für die Verletzung des Grundrechts auf Schutz vor Auslieferung ist, dass sich das Oberlandesgericht München und die Generalstaatsanwaltschaft München nicht darauf beschränken durften zu prüfen, ob auch Strafverfolgungsmaßnahmen griechischer Behörden „ihrer Art nach“ geeignet wären, die Verjährung nach deutschen Rechtsvorschriften zu unterbrechen. Vielmehr hätten die deutschen Stellen – unter Zugrundelegung der grundrechtlichen Bestimmtheitsanforderungen im Auslieferungsverfahren – die Unsicherheiten und Unwägbarkeiten berücksichtigen müssen, die mit derartigen rechtsordnungsübergreifenden Vergleichsüberlegungen notwendigerweise einhergehen. Denn neben den fremdsprachlichen Schwierigkeiten wirkt sich vor allem als grundrechtsrelevante Unsicherheit aus, dass die strafprozessualen Vorschriften und Verfahrensweisen in jedem EU-Mitgliedstaat unterschiedlich ausgestaltet sind. Diese Erwägungen gelten auch für das Europäische Haftbefehlsverfahren. Dieses Verfahren vereinfacht die Auslieferung zwischen den Mitgliedstaaten der Europäischen Union innerhalb eines zusammenwachsenden Wirtschafts- und Rechtsraumes. Es erlaubt aber auch jedem Mitgliedstaat der Europäischen Union, im Falle innerstaatlicher Verfolgungsverjährung die Auslieferung seiner Staatsangehörigen zu verweigern. Mit der offenen Frage, ob und inwieweit ausländische Verfahrenshandlungen Wirkung auf den Lauf der Verjährung innerhalb der deutschen Rechtsordnung haben, hat sich, so das BVerfG, insbesondere die angegriffene Entscheidung des Oberlandesgerichts München nicht hinreichend auseinandergesetzt, vor allem nicht im Hinblick auf die Bestimmtheit der gesetzlichen Grundlage.

Deutsche Staatsangehörige sind durch das Grundrecht aus Art. 16 Abs. 2 GG vor Auslieferung geschützt1. Das Verbot der Auslieferung (Art. 16 Abs. 2 Satz 1 GG) ist ebenso wie das damit in Zusammenhang stehende Verbot der Ausbürgerung (Art. 16 Abs. 1 GG) nicht nur Ausdruck staatlich beanspruchter Verantwortlichkeit für die eigenen Staatsangehörigen, sondern beide Verbote sind als Freiheitsrechte gewährleistet2. Der qualifizierte Gesetzesvorbehalt, der nach dem zweiten Satz dieser Vorschrift durch Gesetz für bestimmte Fälle eine Einschränkung des Grundrechts erlaubt, ändert nichts daran, dass das Grundrecht, das die Staatsangehörigkeit und den Verbleib in der eigenen Rechtsordnung garantiert, einen hohen Rang hat3.

Der Zweck des Freiheitsrechts auf Auslieferungsschutz liegt dabei nicht darin, den Betroffenen einer gerechten Bestrafung zu entziehen4. Vielmehr sollen Bürger nicht gegen ihren Willen aus der ihnen vertrauten Rechtsordnung entfernt werden. Jeder Staatsangehörige soll – soweit er sich im Staatsgebiet aufhält – vor den Unsicherheiten einer Aburteilung unter einem ihm fremden Rechtssystem und in für ihn schwer durchschaubaren fremden Verhältnissen bewahrt werden4. Damit das Auslieferungsverbot dabei nicht zu einem Freibrief für kriminelles Handeln eigener Staatsangehöriger im Ausland wird und um der mit dem Schutzversprechen einhergehenden Verantwortung für deren Handeln gerecht zu werden, erstreckt sich die Strafgewalt der Bundesrepublik Deutschland grundsätzlich auch auf Straftaten im Ausland (vgl. §§ 5 ff. StGB und § 1 VStGB).

Überdies gewährleistet Art. 16 GG nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts als Grundrecht mit seinem Ausbürgerungs- und Auslieferungsverbot die besondere Verbindung der Bürger zu der von ihnen getragenen freiheitlichen Rechtsordnung. Der Beziehung des Bürgers zu einem freiheitlichen demokratischen Gemeinwesen entspricht es, dass der Bürger von dieser Vereinigung grundsätzlich nicht ausgeschlossen werden kann3.

Diese Grundsätze haben alle Stellen deutscher Staatsgewalt – auch im Bereich der Umsetzung des Rahmenbeschlusses über den Europäischen Haftbefehl – zu beachten.

So war der Gesetzgeber bei Erlass des Umsetzungsgesetzes zum Rahmenbeschluss verpflichtet, das Ziel des Rahmenbeschlusses in der Weise umzusetzen, dass die dabei unumgängliche Einschränkung des Grundrechts auf Auslieferungsfreiheit verhältnismäßig ist. Insbesondere hatte der Gesetzgeber über die Beachtung der Wesensgehaltsgarantie hinaus dafür Sorge zu tragen, dass der Eingriff in den Schutzbereich des Art. 16 Abs. 2 GG schonend erfolgt. Dabei musste er insbesondere beachten, dass mit dem Auslieferungsverbot gerade auch die Grundsätze der Rechtssicherheit und des Vertrauensschutzes für den von einer Auslieferung betroffenen Deutschen gewahrt werden. Die Verlässlichkeit der Rechtsordnung ist wesentliche Voraussetzung für Freiheit, das heißt für die Selbstbestimmung über den eigenen Lebensentwurf und seine Umsetzung5.

Gleiche Bindungen bestehen aber auch für Exekutive und Judikative. Sie aktualisieren sich unter anderem dann, wenn auf der Grundlage eines grundrechtseinschränkenden Gesetzes im Sinne von Art. 16 Abs. 2 Satz 2 GG in das Grundrecht aus Art. 16 Abs. 2 Satz 1 GG eingegriffen werden soll.

Jede Anforderung, die an grundrechtseinschränkende Gesetze im Allgemeinen gestellt wird, muss auch – und gerade – im Kontext des Schutzes vor Auslieferungen gemäß Art. 16 Abs. 2 Satz 1 GG gewahrt sein. So verdrängt die besondere im Wortlaut des Art. 16 Abs. 2 Satz 2 GG genannte Schranke nicht die für jedes grundrechtseinschränkende Gesetz bestehenden Grenzen der Verfassung. Jedes einschränkende Gesetz muss daher seinerseits allen verfassungsrechtlichen Bindungen entsprechen, darf keine Kollisionen mit anderen Verfassungsbestimmungen hinnehmen und muss unter Beachtung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes den Eingriff schonend ausgestalten6. Zu den Anforderungen an Grundrechtsbeschränkungen in diesem Sinne zählt namentlich das Bestimmtheitserfordernis, das in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts seit langem als wesentlicher rechtsstaatlicher Bestandteil der Rechtssicherheit im Sinne einer Vorhersehbarkeit von (insbesondere belastenden) Rechtsfolgen für den Grundrechtsträger anerkannt ist.

Ausdrücklich mit Blick auf den Europäischen Haftbefehl hat das Bundesverfassungsgericht die Einhaltung des verfassungsrechtlichen Gebotes der Bestimmtheit von grundrechtseinschränkenden Gesetzen angemahnt. Danach muss der Gesetzgeber die Vollstreckungsbehörde mit rechtsstaatlich bestimmten Tatbeständen zumindest in den Stand setzen, das insoweit geschützte Vertrauen seiner Staatsangehörigen in die deutsche Rechtsordnung im Einzelfall entsprechend dieser verfassungsrechtlichen Grundsätze zu gewichten, sofern er auf der Grundlage des Art. 16 Abs. 2 Satz 2 GG den Auslieferungsschutz Deutscher in verfassungsgemäßer Weise einschränken will7. Die allgemeine Bindung des Richters an Grundrechte in Verbindung mit dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit (Art. 1 Abs. 3 GG) allein genügt diesen Anforderungen an ein grundrechtsbeschränkendes Gesetz nicht.

Die verfassungsrechtlichen Anforderungen an die Auslieferung Deutscher sowie die Grundsätze der Rechtsklarheit und Rechtssicherheit gebieten es vielmehr, dass jedes Ausführungsgesetz zu Art. 16 Abs. 2 GG aus sich heraus verständlich ist und die Auslieferungsentscheidungen hinreichend vorherbestimmt. In jedem Fall bedarf die verfassungsrechtlich gebotene Konkretisierung einer Abbildung im Gesetzestext8. Denn neben der verfahrensrechtlichen Absicherung der Grundrechtssphäre des Bürgers dienen Bestimmtheit und Klarheit von Normen dazu, die Verwaltung zu binden und ihr Verhalten nach Inhalt, Zweck und Ausmaß zu begrenzen9. Die Entscheidung über die Grenzen der Freiheit des Bürgers wird nur bei hinreichender Gesetzesklarheit nicht einseitig in das Ermessen der Verwaltung gestellt10; Normenbestimmtheit und Normenklarheit versetzen die Gerichte erst in die Lage, die Verwaltung anhand rechtlicher Maßstäbe zu kontrollieren. Umgekehrt beeinträchtigen etwaige Mängel hinreichender Normenbestimmtheit und -klarheit insbesondere die Beachtung des verfassungsrechtlichen Übermaßverbots11.

Die Bestimmtheitsanforderungen gelten gerade auch im Falle von Verweisungsketten12 beziehungsweise bei der Regelung einer Materie durch das Zusammenspiel von Normen13 wie vorliegend durch die Anwendbarkeit von § 9 Nr. 2 IRG in Verbindung mit § 78c StGB.

An diesen Maßstäben gemessen, beruhen Auslegung und Anwendung von § 9 Nr. 2 IRG durch das Oberlandesgericht München auf einer grundsätzlich unrichtigen Anschauung von der Bedeutung des Art. 16 Abs. 2 GG, insbesondere vom Umfang dessen Schutzbereichs.

§ 9 Nr. 2 IRG bestimmt:

Ist für die Tat auch die deutsche Gerichtsbarkeit begründet, so ist die Auslieferung nicht zulässig, wenn […], die Verfolgung oder Vollstreckung nach deutschem Recht verjährt oder auf Grund eines deutschen Straffreiheitsgesetzes ausgeschlossen ist.

Die Auslegung von § 9 Nr. 2 IRG in der Weise, dass bei konkurrierender Gerichtsbarkeit die Auslieferung Deutscher zur Strafverfolgung auch dann zulässig sei, wenn die Tat im Inland wegen Verfolgungsverjährung nicht mehr geahndet werden kann, die Strafverfolgungsbehörden des ersuchenden Staates jedoch Handlungen vorgenommen haben, die „ihrer Art nach“ geeignet wären, die Verjährung nach deutschen Rechtsvorschriften zu unterbrechen, berücksichtigt die Tragweite des Grundrechts nicht hinreichend und greift unverhältnismäßig in die Auslieferungsfreiheit nach Art. 16 Abs. 2 GG ein.

Dabei kann offen bleiben, ob – jedenfalls bei Auslieferung Deutscher – die Auslegung des § 9 Nr. 2 IRG durch das Oberlandesgericht München sogar das Willkürverbot berührt.

Die Auslegungsproblematik resultiert im vorliegenden Fall aus der Heranziehung einer Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs14 zu Art. 10 EuAlÜbk im Rahmen der Auslegung von § 9 Nr. 2 IRG15. Art. 10 EuAlÜbk hat folgenden Wortlaut:

Die Auslieferung wird nicht bewilligt, wenn nach den Rechtsvorschriften des ersuchenden oder des ersuchten Staates die Strafverfolgung oder Strafvollstreckung verjährt ist.

Einfachrechtlich problematisch ist die Übertragung der Rechtsprechung zu Art. 10 EuAlÜbk auf § 9 Nr. 2 IRG erstens deswegen, weil der Bundesgerichtshof seinerzeit ausdrücklich die Gültigkeit seiner Überlegungen für die ähnliche Bestimmung in § 9 Nr. 2 IRG offen ließ16, weil – zweitens – der Wortlaut von Art. 10 EuAlÜbk nicht übereinstimmt mit § 9 Nr. 2 IRG und – drittens – deswegen, weil die Regelung in Art. 10 EuAlÜbk nach damaliger Verfassungslage gar nicht die Auslieferung von Deutschen betraf.

Verfassungsrechtlich problematisch in einer Weise, die jedenfalls in die Nähe des Willkürvorwurfs gerät, ist die Annahme des Oberlandesgerichts München, dass „keine Gründe ersichtlich [seien], weshalb diese Grundsätze der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofes nicht auch auf den Anwendungsbereich des Rahmenbeschlusses des Rates über den Europäischen Haftbefehl vom 13. Juni 2002 beziehungsweise das Gesetz über die internationale Rechtshilfe in Strafsachen anwendbar wären.“

Diese Ausführungen legen es nahe, dass das Oberlandesgericht München die veränderte Verfassungsrechtslage mit der nunmehr nur ausnahmsweise möglichen Auslieferung auch deutscher Staatsangehöriger im Rahmen der grundrechtlichen Vorgabe des Art. 16 Abs. 2 GG in neuer Gestalt nicht für die Auslegung der Norm berücksichtigt hat. Ebenfalls nicht berücksichtigt werden die Grundsätze der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts vom 18. Juli 2005 zur Umsetzung des Rahmenbeschlusses über den Europäischen Haftbefehl, namentlich die dort entwickelten Anforderungen an die innerstaatlichen Vorschriften zum Europäischen Haftbefehl beziehungsweise zu deren Anwendung.

Die entscheidend veränderte verfassungsrechtliche Rahmensituation wird nicht nur nicht aufgegriffen, sondern durch das Oberlandesgericht München sogar in ihr Gegenteil verkehrt, wenn das Gericht auch im Anwendungsbereich des Rahmenbeschlusses des Rates über den europäischen Haftbefehl es als maßgeblich hervorhebt, dass es „Sinn und Zweck [sei], den Auslieferungsverkehr zwischen den Vertragsstaaten zu erleichtern“. Diese einseitig auslieferungsfreundliche Deutung übersieht den aus dem Statusrecht als Deutscher folgenden Schutzanspruch der Grundrechtsträger, der im Rahmen einer stets erforderlichen Abwägung als eigenständiger Wertungsgesichtspunkt mit dem grenzüberschreitenden europäischen Strafverfolgungsinteresse in Ausgleich gebracht werden muss17.

Ungeachtet dieses (möglichen) Willkürvorwurfs verkennt das Oberlandesgericht München im Zuge seiner Auslegung von § 9 Nr. 2 IRG, so das BVerfG weiter, jedenfalls Inhalt und Tragweite von Art. 16 Abs. 2 Satz 1 GG. Der Beschluss wird insoweit dem hohen Rang des betroffenen Grundrechts nicht gerecht, weil er die gesteigerten verfassungsrechtlichen Anforderungen unterschreitet, die angesichts der Schwere der grundrechtlichen Beeinträchtigung im Falle einer Auslieferung an die Vorhersehbarkeit verfassungskonformer Grundrechtsbeeinträchtigungen zu stellen sind. Die Auslegung von § 9 Nr. 2 IRG, die das Oberlandesgericht München vornimmt, führt im Zusammenspiel mit § 78c StGB sowie durch die spezifische Kombination mit den jeweils in Bezug genommenen Hoheitsakten ausländischer Strafverfolgungsbehörden zu verfassungsrechtlich nicht hinreichend vorhersehbaren Eingriffen in das Grundrecht auf Auslieferungsfreiheit gemäß Art. 16 Abs. 2 Satz 1 GG. Beeinträchtigt wird die Vorhersehbarkeit des Auslieferungsverfahrens insbesondere durch die so erforderlich gewordenen Ausführungen zum ausländischen Prozessrecht. Die verfahrensrechtliche Abhängigkeit einer Auslieferung von Akten ausländischer Hoheitsträger, deren Funktionsäquivalenz trotz des generellen Vertrauens in die Wahrung rechtsstaatlicher Grundsätze durch Mitgliedstaaten der Europäischen Union für alle Beteiligten nur wenig verlässlich ermittelbar ist, konfrontiert den von einer Auslieferung betroffenen Grundrechtsträger mit nicht hinreichend vorhersehbaren Rechtsfolgen.

Die sogenannte Substitution ist zwar nicht generell verfassungsrechtlichen Bedenken ausgesetzt. Die bei der Suche nach Funktionsäquivalenten in fremden Rechtsordnungen regelmäßig entstehenden Übersetzungs-, Einordnungs- und Bewertungsfragen18 sind aber als verfassungskonforme Beschränkungen von Art. 16 Abs. 2 Satz 1 GG nicht hinnehmbar, sie genügen nicht dem qualifizierten Gesetzesvorbehalt von Art. 16 Abs. 2 Satz 2 GG.

Die Auslegung von § 9 Nr. 2 IRG in Verbindung mit § 78c StGB (sogenannte Substitution) ist eine dogmatische Besonderheit, die ihrer Art nach jedoch nicht einmalig in der deutschen Rechtsordnung ist. Der Begriff der Substitution bezeichnet grundsätzlich die Ersetzung eines inländischen durch einen ausländischen (Verwaltungs-)Akt. Anlass dafür ist stets, dass Rechtsnormen auf Rechtserscheinungen Bezug nehmen, ohne klar zu entscheiden, ob darunter auch sogenannte fremdrechtliche Vorgänge zu verstehen sind19. Das Problem der Substitution wird daher meist im Kontext von international-privatrechtlichen Konstellationen diskutiert20. Verbreitet wird dort von einem Grundsatz der Nichtanerkennung und erst recht des Nichtvollzugs ausländischer Verwaltungsakte ausgegangen, doch lockert sich diese Haltung im jüngeren Schrifttum auf. Substitution ist für sich betrachtet jedoch kein Gegenstand des Internationalen Privatrechts, sondern kann prinzipiell in allen Rechtsgebieten auftreten21. Allgemein verbirgt sich dahinter jeweils das Problem der Gleichwertigkeit fremder Rechtserscheinungen.

Nach herrschender Auffassung im einschlägigen Schrifttum handelt es sich bei Fragen der Substitution stets um einen Aspekt der Auslegung der betreffenden Sachnormen, die bisweilen erleichtert wird, wenn der Gesetzgeber selbst entsprechende Anweisungen erläutert22. Derartige Hinweise des Gesetzgebers sind selten, eines der wenigen Gegenbeispiele liefert § 34 Abs. 1 SGB I. Typische Auslegungsprobleme der Sachnorm sind in diesem Zusammenhang etwa die Frage, ob Gleichartigkeit der fremden Rechtserscheinung erforderlich ist oder ob Ähnlichkeit in den wesentlichen Punkten genügt23. Ist einer Sachnorm nichts Besonderes zu entnehmen, wird häufig als Faustregel auf Funktionsäquivalenz abgestellt.

Im Rahmen von § 9 Nr. 2 IRG in Verbindung mit § 78c StGB genügt die vom Oberlandesgericht München vorgenommene Substitution nicht den Anforderungen des Art. 16 Abs. 2 Satz 1 GG. Die unzuverlässige und mit Unsicherheiten behaftete Ermittlung funktionsäquivalenter Unterbrechungstatbestände bietet jedenfalls im grundrechtssensiblen verfahrensrechtlichen Kontext der Auslieferung deutscher Staatsangehöriger keine hinreichende Vorhersehbarkeit der Grundrechtsbeeinträchtigungen.

Der angegriffene Beschluss des Oberlandesgerichts München enthält erhebliche Unwägbarkeiten bei der Bestimmung von Funktionsäquivalenten: so muss das Oberlandesgericht mit Art. 31 Abs. 2 (gemeint ist wohl: Art. 31 § 2) eine Bestimmung der griechischen Strafprozessordnung heranziehen, um das Handeln der griechischen Behörden überhaupt im richtigen normativen Kontext erfassen zu können, wobei der fremdsprachliche Kontext hinzutritt; denn die von den griechischen Behörden vorgelegten Schriftstücke lassen nach Auffassung des Oberlandesgerichts München nicht eindeutig erkennen, ob der Beschwerdeführer als „Zeuge“ oder aber als „Beschuldigter“ von den griechischen Behörden geführt wurde.

Diese grundrechtsrelevanten Unsicherheiten, die durch die Substitution entstehen, hat das Oberlandesgericht München „sehenden Auges“ hingenommen, ohne die Notwendigkeit der Substitution im Lichte von Art. 16 Abs. 2 Satz 1 GG kritisch zu hinterfragen. Dabei hätte insbesondere der Vorlagebeschluss des Oberlandesgerichts Oldenburg24 einen Anlass geben müssen, sich mit den grundrechtlichen Aspekten verjährungsunterbrechender Substitution zu befassen; in diesem Beschluss legte das Oberlandesgericht Oldenburg dem Bundesgerichtshof gemäß § 42 Abs. 1 IRG die folgende Rechtsfrage vor:

Ist die Auslieferung eines deutschen Staatsangehörigen aufgrund eines Europäischen Haftbefehls an die Republik Polen – zur Strafverfolgung wegen in Polen begangener Straftaten, die nach deutschem Recht verjährt wären und für die wegen der deutschen Staatsangehörigkeit des Verdächtigten auch die deutsche Gerichtsbarkeit begründet ist – auch dann unzulässig, wenn in der Republik Polen Handlungen vorgenommen worden sind, die ihrer Art nach geeignet wären, die Verjährung nach deutschen Rechtsvorschriften zu unterbrechen?

An die dabei zentrale Aussage des Oberlandesgerichts Oldenburg25,

vor dem Hintergrund der […] grundrechtsschonenden Auslegung der Vorschriften kommt nach Auffassung des Senats eine Auslegung dahingehend, dass die polnischen Haftbefehle auch die deutsche Verjährung unterbrochen haben, nicht in Betracht. Die praktischen Erwägungen, die von Bubnoff in seinem Aufsatz schildert, vermögen daran nichts zu ändern,

knüpft das Oberlandesgericht München in seinem Beschluss inhaltlich nicht an, sondern beschränkt sich ausschließlich auf die Diskussionen von Fragen der formellen Bindungswirkung (§ 42 Abs. 1 IRG).

Für die Beurteilung der am verfassungsrechtlichen Maßstab gemessen mangelnden Vorhersehbarkeit der „funktionsäquivalenten Unterbrechungstatbestände“ ist unerheblich, ob der Gesetzgeber – was vorliegend dahinstehen kann – bei der Umsetzung des Rahmenbeschlusses zum Europäischen Haftbefehl an der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs zu § 9 Nr. 2 IRG aus dem Jahr 1984 festhalten wollte26. Denn dieser mögliche Wille des Gesetzgebers hätte mit hinreichender Deutlichkeit in der gesetzlichen Grundlage Ausdruck finden müssen; insbesondere hätten dafür die relevanten Tatbestände ausländischer Vollstreckungsbehörden in nachvollziehbarer Weise sichtbar werden müssen. Nur unter diesen qualifizierten Voraussetzungen an die Nachvollziehbarkeit des Auslieferungsverfahrens kann der Forderung des Bundesverfassungsgerichts nachgekommen werden, dass die verfassungsrechtlich gebotene Konkretisierung einer „Abbildung im Gesetzestext“8 bedarf.

Aus dem Grundsatz der gegenseitigen Anerkennung der europäischen justiziellen Zusammenarbeit in Strafsachen ergibt sich nichts anderes. Denn namentlich der Rahmenbeschluss über den Europäischen Haftbefehl eröffnet in Art. 4 Nr. 4 die Möglichkeit einer Auslieferungsverweigerung für den Fall der „Verjährung nach den Rechtsvorschriften des Vollstreckungsmitgliedstaates“. Jedenfalls können die Zugeständnisse im Rahmen der gegenseitigen Anerkennung nicht weiter gehen, als dies die grundrechtlichen Spielräume bei der Auslieferung deutscher Staatsangehöriger zulassen27.

Eine verfassungskonforme Auslegung von § 9 Nr. 2 IRG setzt in Konstellationen der Auslieferung deutscher Staatsangehöriger notwendigerweise voraus, dass lediglich inländische Unterbrechungstatbestände anerkannt werden können, um zu hinreichend voraussehbaren Rechtsfolgen für die von Auslieferung betroffenen deutschen Staatsangehörigen zu gelangen.

Bundesverfassungsgericht, Beschluss vom 3. September 2009 – 2 BvR 1826/09

  1. BVerfGE 113, 273, 292[]
  2. BVerfGE 113, 273, 293[]
  3. BVerfGE 113, 273, 294[][]
  4. BVerfGE 29, 183, 193; 113, 273, 293[][]
  5. BVerfGE 113, 273, 301 f.[]
  6. BVerfGE 113, 273, 299 f.[]
  7. BVerfGE 113, 273, 308[]
  8. BVerfGE 113, 273, 315 f.[][]
  9. BVerfGE 56, 1, 12; stRspr[]
  10. BVerfGE 78, 214, 226[]
  11. BVerfGE 114, 1, 53 f.; 118, 168, 186 f.; 120, 274, 316; 120, 378, 407 f.[]
  12. vgl. dazu BVerfGE 110, 33, 63 f.; 118, 168, 192[]
  13. vgl. dazu BVerfGE 108, 52, 75; 110, 33, 53 f.[]
  14. BGHSt 33, 26 ff.[]
  15. siehe dazu Vogel/Burchard, in: Grützner/Pötz/Kreß (Hrsg.), Internationaler Rechtshilfeverkehr in Strafsachen, Kommentar, 3. Auflage, Bd. I, Loseblatt, Stand: Mai 2009, § 9 Rn. 66[]
  16. BGHSt 33, 26, 28 f.[]
  17. vgl. dazu BVerfGE 113, 273, 307[]
  18. vgl. Sonnenberger, in: Münchener Kommentar zum BGB, 4. Auflage 2006, Einleitung, Rn. 614[]
  19. Sonnenberger, in: Münchener Kommentar zum BGB, 4. Auflage 2006, Einleitung, Rn. 614[]
  20. vgl. nur BGHZ 109, 1, 6 m.w.N.; Thorn, in: Palandt, BGB, 68. Auflage 2009, Einleitung Art. 3 EGBGB, Rn. 31[]
  21. so ausdrücklich Sonnenberger, in: Münchener Kommentar zum BGB, 4. Auflage 2006, Einleitung, Rn. 618[]
  22. vgl. m.w.N. Sonnenberger, in: Münchener Kommentar zum BGB, 4. Auflage 2006, Einleitung, Rn. 614[]
  23. vgl. BGHZ 109, 1, 6[]
  24. OLG Oldenburg, Beschluss vom 06.042009 , NJW 2009, S. 2320 f.[]
  25. OLG Oldenburg, NJW 2009, S. 2320, 2321[]
  26. vgl. zum Willen des historischen Gesetzgebers Vogel/Burchard, in: Grützner/Pötz/Kreß (Hrsg.), Internationaler Rechtshilfeverkehr in Strafsachen, Kommentar, 3. Auflage, Bd. I, Loseblatt, Stand: Mai 2009, § 9 Rn. 68[]
  27. vgl. auch Vogel/Burchard, in: Grützner/Pötz/Kreß (Hrsg.), Internationaler Rechtshilfeverkehr in Strafsachen, Kommentar, 3. Auflage, Bd. I, Loseblatt, Stand: Mai 2009, § 9 Rn. 84[]