Neue psychoaktive Stoffe – in nicht geringer Menge

Trotz fehlender „Vertatbestandlichung“ der nicht geringen Menge in § 4 NpSG kommt dem Maß einer etwaigen Grenzwertüberschreitung des jeweiligen psychoaktiven Stoffs für die Strafzumessung – wie im Betäubungsmittelgesetz – auch im Neuepsychoaktive-Stoffe-Gesetz überragende Bedeutung zu.

Neue psychoaktive Stoffe – in nicht geringer Menge

Infolge der Auflistung der im hier entschiedenen Fall gehandelten synthetischen Cannabinoide 5F-MDMB2201 und 4F-ADB in der Anlage II zum Betäubungsmittelgesetz (vgl. § 1 Abs. 1 BtMG) mit Wirkung vom 17.07.20201 bzw. vom 21.01.20212 richtet sich eine mögliche Strafbarkeit nicht mehr nach § 4 NpSG (§ 1 Abs. 2 NpSG), sondern nach den Regelungen des Betäubungsmittelgesetzes3, wobei § 4 NpSG und §§ 29 ff. BtMG gleichermaßen das Handeltreiben mit bestimmten Konsum- und Rauschmitteln unter Strafe stellen. Die erforderliche Unrechtskontinuität ist mithin gegeben4.

Die gebotene konkrete Gesamtbetrachtung5 führt zur Anwendung von § 4 Abs. 3 NpSG im Schuld- und Strafausspruch6. Da die Angeklagten nach den rechtsfehlerfreien Feststellungen jeder für sich (§ 28 Abs. 2 StGB) in allen Fällen das Merkmal der Gewerbsmäßigkeit erfüllten und die gehandelten Stoffe jeweils den Grenzwert zur nicht geringen Menge im Sinne von § 29a Abs. 1 Nr. 2 BtMG überschritten, ist diejenige Strafvorschrift maßgeblich, die eine gegenüber § 29a Abs. 1 Nr. 2 BtMG niedrigere Höchststrafe vorsieht (§ 38 Abs. 2 StGB; vgl. SK-StGB/Jäger, 9. Aufl., § 2 Rn. 39), während eine Bestrafung nach dem von § 29 Abs. 1 BtMG vorgesehenen Strafrahmen ausschied.

Für die Festsetzung der schuldangemessenen Strafe hat das Landgericht sachverständig beraten nähere Feststellungen zur Gefährlichkeit und zum Wirkstoffgehalt der gehandelten Substanzen getroffen7 und sich zur Ermittlung einer von ihm bei der Strafrahmenwahl berücksichtigten „erheblichen Menge“ an den Grenzwerten der nicht geringen Menge im Sinne von § 29a Abs. 1 Nr. 2 BtMG orientiert, in der sich Gefährlichkeit und Toxizität des Stoffes widerspiegeln8. Dies ist nicht zu beanstanden.

Allerdings ist der Gesetzgeber dem Vorschlag des Bundesrates, bei den Strafvorschriften des § 4 NpSG die Konzeption der §§ 29 ff. BtMG zu übernehmen9, nicht gefolgt, weil die neuen psychoaktiven Stoffe sich hinsichtlich der Evidenz ihrer Wirkung und des Gefahrenpotenzials für die Gesundheit von den in den Anlagen des Betäubungsmittelgesetzes umfassten Stoffen unterschieden10. Nicht anders als das Betäubungsmittelgesetz dient indessen auch das Neuepsychoaktive-Stoffe-Gesetz dem Schutz der Gesundheit der Bevölkerung und des Einzelnen, insbesondere von Jugendlichen und jungen Erwachsenen, vor den häufig unkalkulierbaren und schwerwiegenden Gefahren, die mit dem Konsum der zur Umgehung des Drogenverbots entwickelten Stoffe verbunden sind11. Trotz fehlender „Vertatbestandlichung“ der nicht geringen Menge in § 4 NpSG kommt dem Maß einer etwaigen Grenzwertüberschreitung des jeweiligen psychoaktiven Stoffs für die Strafzumessung – wie im Betäubungsmittelgesetz12 – auch im Neuepsychoaktive-Stoffe-Gesetz überragende Bedeutung zu. Die Tatgerichte werden demgemäß jeweils diesbezügliche Feststellungen zu treffen haben.

Nach Maßgabe der ständigen Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs13 hat das Landgericht den Grenzwert der nicht geringen Menge durch einen Vergleich mit verwandten Wirkstoffen festgelegt, weil nach seinen Feststellungen ausreichende Erkenntnisse zu einer äußerst gefährlichen, gar tödlichen Dosis des Wirkstoffs oder zum Konsumverhalten nicht zu gewinnen waren.

Für das synthetische Cannabinoid 5F-MDMB220114 hat das Landgericht ohne Rechtsfehler den Grenzwert bei jedenfalls zwei Gramm festgestellt. Das Cannabinoid entspreche, wie Tier- und Selbstversuche sowie Befragungsstudien mit Konsumenten gezeigt hätten, in seiner Wirkungsweise und den bei Vergiftungen auftretenden Symptomen dem zur Tatzeit bereits in Anlage II zum Betäubungsmittelgesetz aufgeführten synthetischen Cannabinoid JWH018, bei dem der Grenzwert der nicht geringen Menge zwei Gramm beträgt15, wobei für eine berauschende Wirkung sogar eine geringere Dosis 5F-MDMB2201 genüge. Auch mit dem hochpotenten Stoff 5F-ADB16, der seit 2016 dem Betäubungsmittelgesetz unterfällt, und für den der Grenzwert mit einem Gramm festgestellt ist17 bestehe eine Vergleichbarkeit.

Die nicht geringe Menge für das synthetische Cannabinoid 4F-ADB und das – (noch) nicht in Anlage II zum Betäubungsmittelgesetz aufgelistete – synthetische Cannabinoid 5-CL-ADB-A hat das Landgericht rechtsfehlerfrei ebenfalls mit zwei Gramm bestimmt. Beide Stoffe entsprechen nach den durch Sachverständigengutachten belegten Feststellungen in ihrer Wirkweise und Potenz den unter das BtMG fallenden Stoffen JWH018 und 5F-ADB. Insofern irrelevante Unterschiede ergäben sich lediglich in der Abbaureaktion.

Bundesgerichtshof, Beschluss vom 11. Januar 2022 – 6 StR 461/21

  1. 5F-MDMB2201; vgl. Verordnung vom 10.07.2020, BGBl. I S. 1691[]
  2. 4F-ADB; vgl. Verordnung vom 14.01.2021, BGBl. I S. 70[]
  3. vgl. BT-Drs. 18/8579, S. 18[]
  4. vgl. BGH, Urteil vom 12.02.1991 – 5 StR 523/90, BGHSt 37, 320, 322; Beschluss vom 10.07.1975 – GSSt 1/75, BGHSt 26, 167, 172[]
  5. vgl. BGH, Urteil vom 04.07.2018 – 5 StR 46/18, NStZ-RR 2018, 320, 321 mwN[]
  6. vgl. BGH, Beschluss vom 14.10.2014 – 3 StR 167/14 Rn. 30[]
  7. vgl. BGH, Beschluss vom 26.07.2001 – 4 StR 110/01, NStZ-RR 2002, 52, 53[]
  8. st. Rspr., vgl. BGH, Urteil vom 03.12.2008 – 2 StR 86/08, BGHSt 53, 89 Rn. 13 mwN[]
  9. vgl. BT-Drs. 18/8964, S. 1[]
  10. vgl. die Gegenäußerung der Bundesregierung, BT-Drs. 18/8964, S. 4[]
  11. BT-Drs. 18/8579, S. 15[]
  12. vgl. Maier in Weber/Kornprobst/Maier, BtMG, 6. Aufl., § 29a Rn. 54 mit zahlreichen Nachweisen[]
  13. vgl. BGH, Urteile vom 17.11.2011 ? 3 StR 315/10, BGHSt 57, 60 Rn. 10; und vom 14.01.2015 – 1 StR 302/13, BGHSt 60, 134, 136 f. Rn. 35; jeweils mwN[]
  14. auch 5F-MDMB-PICA[]
  15. vgl. BGH, Urteil vom 14.01.2015 – 1 StR 302/13, aaO Rn. 34[]
  16. auch 5F-ADMB-PINACA[]
  17. vgl. LG Kleve, Urteil vom 02.11.2020 – 120 KLs 36/20 41; Patzak in ders./Volkmer/Fabricius, BtMG, 10. Aufl., § 29a Rn. 71a[]

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