Ausweisung eines noch nie eingereisten Ausländers

§§ 53 ff. AufenthG bieten keine Rechtsgrundlage für die Ausweisung eines visumpflichtigen drittstaatsangehörigen Ausländers, der noch nie in die Bundesrepublik Deutschland eingereist ist und sich dort aufgehalten hat.

Ausweisung eines noch nie eingereisten Ausländers

Es verstößt gegen Bundesrecht (§ 137 Abs. 1 Nr. 1 VwGO), die Ausweisung eines noch nie in das Bundesgebiet eingereisten visumpflichtigen drittstaatsangehörigen Ausländers als von den §§ 53 ff. AufenthG gedeckt anzusehen. Erweist sich die angefochtene Ausweisungsverfügung deshalb als rechtswidrig und ist aufzuheben, fehlt es schon deswegen für das verhängte Einreise- und Aufenthaltsverbot an einer Grundlage.

Maßgeblich für die rechtliche Beurteilung der Ausweisung und des Einreise- und Aufenthaltsverbots ist die Sach- und Rechtslage im Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung oder Entscheidung des Bayerischen Verwaltungsgerichtshofs1. Die vorliegende Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichts beruht daher auf dem Gesetz über den Aufenthalt, die Erwerbstätigkeit und die Integration von Ausländern im Bundesgebiet (Aufenthaltsgesetz – AufenthG) vom 30.07.20042 in der Fassung der Bekanntmachung vom 25.02.20083, zuletzt geändert durch Artikel 1 und 5 des Gesetzes vom 21.12.20224.

Die Auffassung des Bayerischen Verwaltungsgerichtshofs, die Ausweisung eines Ausländers, der sich noch nie im Bundesgebiet aufgehalten hat, sei nach §§ 53 ff. AufenthG jedenfalls dann zulässig, wenn er konkret seine Einreise in die Bundesrepublik Deutschland und seine Aufenthaltnahme im Bundesgebiet beabsichtige und betreibe, entbehrt einer gesetzlichen Grundlage5. Mangels einer anderen Rechtsgrundlage für die gegenüber dem Ausländer verfügte Ausweisung kann sich die Auffassung des Bayerischen Verwaltungsgerichtshofs auch nicht aus anderen Gründen als richtig darstellen (§ 144 Abs. 4 VwGO):

Die Ausweisung soll den weiteren Aufenthalt eines Ausländers im Inland verhindern. Sie gebietet ihm, das Inland zu verlassen, und verbietet ihm – jedenfalls nach bisheriger Rechtsprechung, es erneut zu betreten6. Dabei gehört es nicht zu den tatbestandlichen Voraussetzungen der Ausweisung, dass sich der Ausländer bei Erlass der Ausweisungsverfügung noch im Bundesgebiet aufhält. Die Ausländerbehörde darf sich des Mittels der Ausweisung auch allein zu dem Zweck bedienen, den Ausländer vom Bundesgebiet fernzuhalten. Erfüllt der Ausländer einen Ausweisungsgrund, besteht Anlass für eine Gefahrenprognose und eine abwägende Ermessensentscheidung, bei der die für den Aufenthalt des Ausländers im Bundesgebiet sprechenden Gesichtspunkte zu berücksichtigen sind. Als ordnungsrechtliches Instrument muss die Ausweisung nicht nur in Fällen eines über einen längeren Zeitraum andauernden Aufenthalts, sondern namentlich auch dann zur Verfügung stehen, wenn der Ausländer grundsätzlich die Möglichkeit hat, wiederholt ein- und auszureisen und seinen Tätigkeiten in Deutschland anlässlich von Kurzaufenthalten nachzugehen7.

Darüber hinaus bieten die §§ 53 ff. AufenthG keine Rechtsgrundlage für die Ausweisung eines visumpflichtigen drittstaatsangehörigen Ausländers, der noch nie in die Bundesrepublik Deutschland eingereist ist und sich dort aufgehalten hat. Dies gilt auch dann, wenn der Ausländer im Ausland ein Ausweisungsinteresse verwirklicht hat und die Einreise in das Bundesgebiet beabsichtigt.

Nach dem Wortlaut des § 53 Abs. 1 AufenthG als zentrale Norm des Ausweisungsrechts wird ein Ausländer ausgewiesen, dessen Aufenthalt die öffentliche Sicherheit und Ordnung, die freiheitlich-demokratische Grundordnung oder sonstige erhebliche Interessen der Bundesrepublik Deutschland gefährdet, wenn die unter Berücksichtigung aller Umstände des Einzelfalls vorzunehmende Abwägung der Interessen an der Ausreise mit den Interessen an einem weiteren Verbleib des Ausländers im Bundesgebiet ergibt, dass das öffentliche Interesse an der Ausreise überwiegt. Diese Formulierung spricht für das Erfordernis eines vorherigen Aufenthalts. Der Begriff „Aufenthalt“ enthält zwar keine zeitliche Dimension und kann einen vergangenen, aktuellen oder zukünftigen Aufenthalt erfassen. Die in der Abwägung zu berücksichtigenden „Interessen an der Ausreise“ können allerdings nur bestehen, wenn sich der Ausländer im Inland aufhält oder aufgehalten hat und von dort ausreist. Noch deutlicher streiten die „Interessen an einem weiteren Verbleib im Bundesgebiet“ für das Erfordernis eines vorherigen Aufenthalts.

Dieser Befund wird durch die Systematik des Gesetzes gestützt. Nach § 53 Abs. 1 AufenthG sind im Rahmen der Entscheidung über eine Ausweisung die Interessen an der Ausreise des Ausländers mit den Interessen an seinem weiteren Verbleib im Bundesgebiet abzuwägen. Dabei sind gemäß § 53 Abs. 2 AufenthG nach den Umständen des Einzelfalles neben seinen persönlichen, wirtschaftlichen und sonstigen Bemühungen im Bundesgebiet und im Herkunftsstaat oder in einem anderen zur Aufnahme bereiten Staat, den Folgen der Ausweisung für Familienangehörige und Lebenspartner sowie dem rechtstreuen Verhalten die Dauer seines Aufenthalts zu berücksichtigen. Die Aufenthaltsdauer stellt damit einen erheblichen Abwägungsbelang im Rahmen der nach Maßgabe von § 55 AufenthG zu berücksichtigenden Bleibeinteressen dar. Schon die Bezeichnung als „Bleibeinteresse“ deutet auf die Erforderlichkeit eines Voraufenthalts. Damit hat der Gesetzgeber die Verfestigung des Aufenthalts als Bleibeinteresse gesetzlich festgelegt und damit zu erkennen gegeben, dass sein Regelungskonzept der Ausweisung auf einem Voraufenthalt basiert und nicht auf Fälle erstreckt werden kann, in denen noch überhaupt kein Aufenthalt bestanden hat.

Auch die systematische Stellung der Ausweisungsvorschriften der §§ 53 ff. AufenthG in Abschnitt 1 „Begründung der Ausreisepflicht“ und dort im Kapitel 5 „Beendigung des Aufenthalts“ spricht ebenfalls für das Erfordernis eines Voraufenthalts, da ohne einen solchen eine Aufenthaltsbeendigung nicht möglich ist. Für einen nicht im Bundesgebiet aufhältigen Ausländer kann auch keine Verpflichtung zur Meldung bei polizeilichen Dienststellen nach § 56 Abs. 1 AufenthG bestehen, die es nur im Bundesgebiet gibt.

Eine Ausweisung ohne vorherigen Aufenthalt steht in systematischer Hinsicht auch nicht im Einklang mit § 11 Abs. 2 Satz 4 AufenthG, wonach die Frist für das gegen den ausgewiesenen Ausländer zu erlassende Einreise- und Aufenthaltsverbot mit der Ausreise beginnt. Dieser normative Anknüpfungspunkt zeigt, dass mit der gesetzlichen Systematik eine Ausweisung mit einem Inlandsaufenthalt verbunden ist. Die von der Beklagten für richtig gehaltene Festlegung des Fristbeginns auf den Zeitpunkt der Zustellung der Ausweisungsverfügung widerspricht dem eindeutigen Wortlaut von § 11 Abs. 2 Satz 4 AufenthG.

Zweck der Ausweisung als ordnungsrechtliche Maßnahme ist es, künftigen Störungen der öffentlichen Sicherheit und Ordnung oder Beeinträchtigungen sonstiger erheblicher Belange der Bundesrepublik Deutschland aufgrund des Verhaltens des Ausländers im Inland vorzubeugen8, wobei gemäß § 53 Abs. 2 AufenthG die in § 55 AufenthG genannten Bleibeinteressen zu berücksichtigen sind. Sie dient grundsätzlich der Beendigung des Aufenthalts und der Verhinderung einer Wiedereinreise9. Der bereits oben dargestellte Regelungsgehalt der §§ 53 ff. AufenthG setzt damit einen Voraufenthalt des Ausländers im Bundesgebiet voraus, der nicht notwendigerweise legal sein muss10.

Diese Zwecksetzung zielt in erster Linie auf die Abwehr von Gefahren für die in § 53 Abs. 1 AufenthG genannten Rechtsgüter, aber auch auf die Berücksichtigung von Bleibeinteressen des Ausländers. Sie beansprucht auch dann Geltung, wenn ein visumpflichtiger Ausländer im Ausland ein Ausweisungsinteresse verwirklicht hat und seine – erstmalige – Einreise in das Bundesgebiet betreibt. Auch wenn ein Einreise- und Aufenthaltsverbot zur Durchsetzung eines Fernhalteinteresses gemäß § 11 Abs. 1 Satz 1 AufenthG nur mit einer Ausweisung, Zurückschiebung oder Abschiebung verbunden werden kann, rechtfertigt es dies nicht, den Anwendungsbereich der Ausweisung auf noch nicht eingereiste visumpflichtige Ausländer mit dem Ziel zu erstrecken, um in derartigen Fällen ein Einreise- und Aufenthaltsverbot erlassen zu können. Dem Bayerischen Verwaltungsgerichtshof ist daher nicht darin zu folgen, es könne auch wegen (allein) im Ausland verwirklichter Ausweisungsinteressen „geboten sein“, den Ausländer durch eine Ausweisung und das damit verbundene, zwingend anzuordnende Einreise- und Aufenthaltsverbot vom Bundesgebiet fernzuhalten und es bei Vorliegen eines solchen Fernhalteinteresses auch „sachgerecht“ sei, diesem durch das Rechtsinstrument der Ausweisung und die damit zu verbindende Anordnung eines Einreise- und Aufenthaltsverbots im Sinne effektiver präventiver Gefahrenabwehr „praktische Wirksamkeit zu verschaffen“.

Dem Zweck des Fernhaltens eines noch nie eingereisten visumpflichtigen Ausländers, der im Ausland Ausweisungsinteressen verwirklicht hat, wird vielmehr durch die Grundkonzeption des Aufenthaltsgesetzes hinreichend Rechnung getragen. Gemäß § 4 Abs. 1 AufenthG bedarf es für die Einreise und den Aufenthalt eines Ausländers im Bundesgebiet eines Aufenthaltstitels. Bei Vorliegen von Ausweisungsinteressen besteht eine Titelerteilungssperre (§ 5 Abs. 1 Nr. 2 AufenthG), die Einreise ohne den nach § 4 AufenthG erforderlichen Aufenthaltstitel gilt als unerlaubt (§ 14 Abs. 1 Nr. 2 AufenthG) und ein Ausländer, der unerlaubt an den für eine legale Einreise allein zugelassenen Grenzübergangsstellen (§ 13 Abs. 1 Satz 1 AufenthG) einreisen will, wird an der Grenze zurückgewiesen (§ 15 Abs. 1 AufenthG). Bei visumpflichtigen Drittstaatsangehörigen, die sich noch nie im Inland aufgehalten haben, drohen – anders als bei von der Visumpflicht befreiten oder uneingeschränkt einreiseberechtigten Ausländern – keine wiederholten Ein- und Ausreisen. Beabsichtigt ein Ausländer, bei dem Ausweisungsinteressen bestehen, konkret die Einreise in das Bundesgebiet, ist die Versagung des Visums mit der entsprechenden Eintragung in die Visadatei und das Visa-Informationssystem auf Grundlage von Art. 12 der Verordnung (EG) Nr. 767/2008 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 09.07.2008 über das Visa-Informationssystem (VIS) und den Datenaustausch zwischen den Mitgliedstaaten über Visa für einen kurzfristigen Aufenthalt (VIS-Verordnung), das gemäß Art. 2 Buchst. e auch der Identifizierung von Personen dient, die die Voraussetzungen für eine Einreise in das Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten oder den dortigen Aufenthalt nicht oder nicht mehr erfüllen, nach der Konzeption des Aufenthaltsgesetzes das geeignete, erforderliche und angemessene Mittel zur Einreiseverhinderung, ohne dass es der Ausweisung bedarf. Die tatsächliche unerlaubte Einreise unter Verletzung der Visumpflicht vermag auch ein mit einer Ausweisung erlassenes Einreise- und Aufenthaltsverbot nicht zu verhindern.

Dieses Verständnis der §§ 53 ff. AufenthG entspricht den Regelungsintentionen des Gesetzgebers. In der Begründung des dem geltenden § 53 AufenthG als zentrale Ausweisungsnorm zugrunde liegenden Entwurfs eines Gesetzes zur Neubestimmung des Bleiberechts und der Aufenthaltsbeendigung vom 25.02.2015, mit dem das Ausweisungsrecht grundlegend neu geordnet wurde, wird der weitere Aufenthalt des Ausländers als tatbestandliche Voraussetzung für die Ausweisung gesehen. Erforderlich ist die Prognose, dass mit hinreichender Wahrscheinlichkeit durch die weitere Anwesenheit des Ausländers im Bundesgebiet ein Schaden an einem der Schutzgüter eintreten wird und dass – auch im Falle einer auf generalpräventive Erwägungen gestützten Ausweisung – das Interesse an der Ausreise das Interesse am weiteren Verbleib des Ausländers im Bundesgebiet überwiegt11. Hierdurch wird hinreichend deutlich, dass der Gesetzgeber in Kenntnis der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts im Urteil vom 31.03.199812 zur Rechtslage nach dem Ausländergesetz 1990 bei der Ausweisung einen Aufenthalt des Ausländers im Bundesgebiet voraussetzt, der fortgesetzt werden soll. Ob darüber hinaus eine Ausweisung auch in Fällen möglich sein soll, in denen sich ein Ausländer noch nie im Bundesgebiet aufgehalten hat, muss der Entscheidung des Gesetzgebers vorbehalten bleiben.

Ist die Ausweisungsverfügung mangels einer Rechtsgrundlage rechtswidrig und deshalb aufzuheben, fehlt es schon deswegen für das gleichzeitig gegen den Ausländer verfügte Einreise- und Aufenthaltsverbot an der nach § 11 Abs. 1 AufenthG erforderlichen Grundlage. Es kann offenbleiben, ob ein solches Einreise- und Aufenthaltsverbot überhaupt auf § 11 Abs. 1 AufenthG gestützt werden kann13.

Bundesverwaltungsgericht, Urteil vom 25. Mai 2023 – 1 C 6.22

  1. stRspr, vgl. BVerwG, Urteil vom 30.07.2013 – 1 C 9.12, BVerwGE 147, 261 Rn. 8 m. w. N.; zum maßgeblichen tatsächlichen Zeitpunkt: BVerwG, Urteil vom 25.10.2011 – 1 C 13.10, BVerwGE 141, 100 Rn. 13[]
  2. BGBl. I S.1950[]
  3. BGBl. I S. 162[]
  4. BGBl. I S. 2847[]
  5. BayVGH, Urteil vom 07.12.2021 – 10 B 21.1451[]
  6. BVerwG, Urteil vom 07.10.1975 – 1 C 46.69, BVerwGE 49, 202 <207 f.>, Beschluss vom 09.09.1992 – 1 B 71.92, Buchholz 402.22 Art. 32, 33 GK Nr. 7[]
  7. BVerwG, Urteil vom 31.03.1998 – 1 C 28.97, BVerwGE 106, 302 <304, 306>, in dem die Frage der Zulässigkeit der Ausweisung eines noch nie eingereisten Ausländers ausdrücklich offengelassen wurde[]
  8. BVerwG, Urteil vom 31.03.1998 – 1 C 28.97, BVerwGE 106, 302 <305>[]
  9. vgl. Bauer, in: Bergmann/Dienelt, Ausländerrecht, 14. Aufl.2022, Vorb. zu den §§ 53-56 AufenthG Rn. 21[]
  10. vgl. BVerwG, Urteile vom 11.11.1980 – 1 C 46.74, Buchholz 402.24 § 10 AuslG Nr. 76, S. 150 f.; und vom 31.03.1998 – 1 C 28.97, BVerwGE 106, 302 <305>[]
  11. BT-Drs. 18/4097 S. 49[]
  12. BVerwG, Urteil vom 31.03.1998 – 1 C 28.97, BVerwGE 106, 302[]
  13. verneinend bei einer inlandsbezogenen Ausweisung: VGH Baden-Württemberg, Urteil vom 02.01.2023 – 12 S 1841/22 156[]

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