Ein Beamter hat bei Eintritt in den Ruhestand Anspruch auf eine finanzielle Vergütung für bezahlten Mindestjahresurlaub, den er nicht genommen hat, weil er aus Krankheitsgründen keinen Dienst geleistet hat.
Die Richtlinie 2003/88/EG über bestimmte Aspekte der Arbeitszeitgestaltung1 steht der Anwendung nationaler Bestimmungen nicht entgegensteht, sie stellt nur Mindestvorschriften auf.
So die Entscheidung des Gerichtshofs der Europäischen Union in dem hier vorliegenden Fall eines Feuerwehrmannes, der als Beamter in Frankfurt am Main seinen Dienst versehen hat. Der Feuerwehrmann, Herr Neidel, arbeitete seit 1970 im Dienst der Stadt Frankfurt am Main. Er war dort im Beamtenverhältnis zunächst als Feuerwehrmann, dann als Hauptbrandmeister tätig. Ab dem 12. Juni 2007 war Herr Neidel wegen Krankheit dienstunfähig und trat mit Ablauf des Monats August 2009 in den Ruhestand. Aufgrund der von der Fünftagewoche abweichend festgesetzten regelmäßigen wöchentlichen Arbeitszeit für Feuerwehrbeamte betrug der Anspruch von Herrn Neidel auf Jahresurlaub in den Jahren 2007 bis 2009 jeweils 26 Tage. Feuerwehrbeamte haben außerdem Anspruch auf einen Feiertagsausgleich. Nach den anwendbaren deutschen Rechtsvorschriften musste Herr Neidel seinen Urlaub grundsätzlich im Urlaubsjahr nehmen. Die Rechtsvorschriften legten jedoch einen Übertragungszeitraum von neun Monaten fest, so dass Urlaub, der nicht innerhalb dieser neun Monate nach dem Ende des Urlaubsjahres angetreten worden war, verfiel.
Herr Neidel ist der Auffassung, zwischen 2007 und 2009 einen unerfüllten Urlaubsanspruch von 86 Tagen angesammelt zu haben, was einen Betrag von 16 821,60 brutto ergebe. Er beantragte deshalb bei der Stadt Frankfurt am Main die Zahlung einer finanziellen Vergütung in dieser Höhe für den nicht genommenen Urlaub. Nachdem sein Antrag mit der Begründung abgelehnt worden war, dass eine Geldabfindung für nicht genommenen Urlaub im deutschen Beamtenrecht nicht vorgesehen sei, erhob Herr Neidel Klage.
Vor diesem Hintergrund hat das angerufene Verwaltungsgericht Frankfurt am Main den Gerichtshof mit mehreren Fragen befasst. Im Wege eines Vorabentscheidungsersuchens können die Gerichte der Mitgliedstaaten in einem bei ihnen anhängigen Rechtsstreit dem Gerichtshof der Europäischen Union Fragen nach der Auslegung des Unionsrechts oder nach der Gültigkeit einer Handlung der Union vorlegen. Der Gerichtshof der Europäischen Union entscheidet nicht über den nationalen Rechtsstreit. Es ist Sache des nationalen Gerichts, über die Rechtssache im Einklang mit der Entscheidung des Gerichtshofs zu entscheiden. Diese Entscheidung des Gerichtshofs der Europäischen Union bindet in gleicher Weise andere nationale Gerichte, die mit einem ähnlichen Problem befasst werden. Das Verwaltungsgericht Frankfurt am Main möchte wissen, ob die Richtlinie 2003/88 für Beamte gilt und ob sich der darin vorgesehene Anspruch auf eine finanzielle Vergütung nur auf den Mindestjahresurlaub von vier Wochen oder auch auf die im nationalen Recht zusätzlich vorgesehenen Urlaubsansprüche erstreckt.
Die Richtlinie 2003/88/EG über bestimmte Aspekte der Arbeitszeitgestaltung verpflichtet die Mitgliedstaaten, die erforderlichen Maßnahmen zu treffen, damit jeder Arbeitnehmer einen bezahlten Mindestjahresurlaub von vier Wochen erhält. Dieser bezahlte Mindestjahresurlaub darf außer bei Beendigung des Arbeitsverhältnisses nicht durch eine finanzielle Vergütung ersetzt werden.
Nach Auffassung des Gerichtshofs der Europäischen Union gilt die Richtlinie 2003/88 grundsätzlich für alle privaten oder öffentlichen Tätigkeitsbereiche, um bestimmte Aspekte der Arbeitszeitgestaltung der Arbeitnehmer zu regeln. Zwar sind in der Richtlinie Ausnahmen von ihrer Anwendung vorgesehen, doch sind diese allein zu dem Zweck erlassen worden, das ordnungsgemäße Funktionieren der Dienste zu gewährleisten, die in Situationen von besonderer Schwere und besonderem Ausmaß für den Schutz der öffentlichen Sicherheit, Gesundheit und Ordnung unerlässlich sind. Daher antwortet der Gerichtshof, dass die Richtlinie 2003/88 für einen Beamten gilt, der unter gewöhnlichen Umständen als Feuerwehrmann tätig ist.
Sodann weist der Gerichtshof der Europäischen Union darauf hin, dass nach dieser Richtlinie jeder Arbeitnehmer Anspruch auf einen bezahlten Mindestjahresurlaub von vier Wochen hat. Endet das Arbeitsverhältnis jedoch, ist es nicht mehr möglich, den bezahlten Jahresurlaub tatsächlich zu nehmen. Deshalb und um zu verhindern, dass dem Arbeitnehmer jeder Genuss dieses Anspruchs – selbst in finanzieller Form – verwehrt wird, gewährt die Richtlinie dem Arbeitnehmer in einem solchen Fall einen Anspruch auf eine finanzielle Vergütung. Für den vorliegenden Fall stellt der Gerichtshof fest, dass der Eintritt eines Beamten in den Ruhestand sein Arbeitsverhältnis beendet. Der Gerichtshof folgert daraus, dass ein Beamter bei Eintritt in den Ruhestand Anspruch auf eine finanzielle Vergütung für bezahlten Jahresurlaub hat, den er nicht genommen hat, weil er aus Krankheitsgründen keinen Dienst geleistet hat. Der Gerichtshof der Europäischen Union stellt jedoch klar, dass die Richtlinie der Anwendung nationaler Bestimmungen nicht entgegensteht, die dem Beamten zusätzlich zu dem Anspruch auf einen bezahlten Mindestjahresurlaub von vier Wochen weitere Ansprüche auf bezahlten Urlaub gewähren. In einem solchen Fall können die nationalen Rechtsvorschriften vorsehen, dass keine finanzielle Vergütung gezahlt wird, wenn dem in den Ruhestand tretenden Beamten diese zusätzlichen Ansprüche nicht haben zugute kommen können, weil er aus Krankheitsgründen keinen Dienst leisten konnte.
In diesem Zusammenhang führt der Gerichtshof der Europäischen Union aus, dass sich die Richtlinie auf die Aufstellung von Mindestvorschriften für Sicherheit und Gesundheitsschutz bei der Arbeitszeitgestaltung beschränkt und die Befugnis der Mitgliedstaaten unberührt lässt, für den Schutz der Arbeitnehmer günstigere nationale Vorschriften anzuwenden. Daher kann im nationalen Recht ein Anspruch auf einen bezahlten Jahresurlaub von mehr als vier Wochen vorgesehen werden, der unter den in diesem nationalen Recht niedergelegten Bedingungen für die Inanspruchnahme und Gewährung eingeräumt wird. Dabei ist es Sache der Mitgliedstaaten, zu entscheiden, ob sie den Beamten zusätzlich zum Anspruch auf einen bezahlten Mindestjahresurlaub von vier Wochen weitere Ansprüche auf bezahlten Urlaub gewähren und ob sie dabei einen Anspruch des in den Ruhestand tretenden Beamten auf eine finanzielle Vergütung für den Fall vorsehen, dass ihm diese zusätzlichen Ansprüche nicht haben zugute kommen können, weil er aus Krankheitsgründen keinen Dienst geleistet hat. Ebenso ist es Sache der Mitgliedstaaten, die Voraussetzungen für eine solche Gewährung festzulegen.
Schließlich stellt der Gerichtshof fest, dass die Richtlinie nach seiner jüngeren Rechtsprechung2 einer Bestimmung des nationalen Rechts entgegensteht, die durch einen Übertragungszeitraum von neun Monaten, nach dessen Ablauf der Anspruch auf bezahlten Jahresurlaub erlischt, den Anspruch eines in den Ruhestand tretenden Beamten auf Ansammlung der finanziellen Vergütungen für wegen Dienstunfähigkeit nicht genommenen bezahlten Jahresurlaub beschränkt. Jeder Übertragungszeitraum muss nämlich für den Arbeitnehmer die Möglichkeit gewährleisten, bei Bedarf über Erholungszeiträume zu verfügen, die längerfristig gestaffelt und geplant werden sowie verfügbar sein können, und er muss die Dauer des Bezugszeitraums, für den er gewährt wird, deutlich überschreiten. Im vorliegenden Fall beträgt der Übertragungszeitraum jedoch neun Monate, ist also kürzer als der betreffende Bezugszeitraum (hier ein Jahr).
Gerichtshof der Europäischen Union, Urteil vom 3. Mai 2012 – C-337/10, Georg Neidel / Stadt Frankfurt am Main