Arzthaftung – und der vorgelegte Befundbericht

Mit einer Gehörsverletzung wegen offensichtlich unzutreffender Erfassung des Inhalts eines von einer Partei vorgelegten Befundberichts in einer Arzthaftungssache hatte sich jetzt der Bundesgerichtshof zu befassen:

Arzthaftung – und der vorgelegte Befundbericht

In dem zugrunde liegenden Fall verlangt die klagende Patientin von der beklagten Allgemeinmedizinerin, bei der sie seit 1999 in hausärztlicher Behandlung war, Schadensersatz nach ärztlicher Behandlung. Nachdem bei ihr im September 2012 Verdauungsstörungen eingesetzt hatten, begab sie sich Ende Oktober 2012 zur Hausärztin und berichtete ihr von unspezifischen abdominellen Beschwerden im Sinne von Meteorismus (Blähbauch) und nicht geformtem Stuhl. Die – der Patientin mitgeteilten – Laborergebnisse der in diesem Zusammenhang abgenommenen Blutprobe wiesen eine leichte Erhöhung des bauchspeicheldrüsentypischen Wertes Lipase auf; die anderen Werte waren im Normbereich. Anfang November 2012 stellte sich die Patientin erneut in der Praxis der Hausärztin vor und klagte wiederum über einen Blähbauch, darüber hinaus über leicht erhöhte Temperatur und über ein Erkältungsgefühl; ihr Stuhlgang sei unregelmäßig, Durchfall bestehe allerdings nicht mehr. Die Patientin wurde deshalb an einen Internisten überwiesen, der eine Vergrößerung der Milz und eine stattgehabte Infektion mit dem EpsteinBarr-Virus feststellte, hinsichtlich der Pankreas aber „o.B.“ (ohne Befund) vermerkte.

Am 20.12.2012 suchte die Patientin wegen fortbestehender Beschwerden und einem zusätzlich aufgetretenen Schwächegefühl erneut die Praxis der Hausärztin auf; eine Blut- und Stuhluntersuchung wurde in Auftrag gegeben. Am 27.12.2012 erfragte die Patientin in der Praxis der Hausärztin telefonisch die Laborbefunde, worauf ihr die Vertretungsärztin der Hausärztin mitteilte, nach dem Ergebnis der Blutuntersuchung sei die Lipase erhöht; das weitere Vorgehen könne, auch weil das Ergebnis der Stuhluntersuchung noch ausstehe, im Januar mit der Hausärztin besprochen werden. Am 2.01.2013 lag dann auch das Ergebnis der Stuhluntersuchung vor, das – die Richtigkeit des festgestellten Elastase-Werts unterstellt – eine schwere Pankreasinsuffizienz zeigte, was der Patientin aber (zunächst) nicht mitgeteilt wurde. Diese stellte sich trotz fortbestehender Beschwerden erst im August 2013 wieder in der Praxis der Hausärztin vor, von wo sie dann im Hinblick auf das Ergebnis der Stuhlprobe vom Dezember 2012 an einen Gastroenterologen und weiter in eine Klinik überwiesen wurde. Am 9.09.2013 wurde bei ihr schließlich ein 10 cm großes Pankreaskarzinom mit Metastasen in der Leber diagnostiziert. Im Wesentlichen mit der Behauptung, ihr hätte der gravierende Befund der Stuhlprobe vom 20.12.2012 zeitnah mitgeteilt werden müssen, was zu weiteren Befunderhebungen geführt hätte, durch die mit überwiegender Wahrscheinlichkeit der Pankreastumor schon damals diagnostiziert und eine Metastasenbildung in der Leber vermieden worden wäre, nimmt die Patientin die Hausärztin auf materiellen und immateriellen Schadensersatz in Anspruch.

Das Landgericht Berlin hat die Klage abgewiesen1, das Kammergericht die von der Patientin hiergegen geführte Berufung zurückgewiesen2. Die Revision hat das Kammergericht nicht zugelassen. Hiergegen wendet sich die Patientin mit ihrer Nichtzulassungsbeschwerde, die jetzt emäß § 544 Abs. 9 ZPO zur Aufhebung des angegriffenen Urteils und zur Zurückweisung des Rechtsstreits an das Kammergericht führte:

Das Kammergericht hat zur Begründung seiner Entscheidung – soweit für das Nichtzulassungsbeschwerdeverfahren von Bedeutung – im Wesentlichen ausgeführt, die Patientin könne einen Behandlungsfehler der Hausärztin nicht beweisen. Mit ihrer Behauptung, von der Hausärztin behandlungsfehlerhaft nicht über das Ergebnis der Stuhlprobe vom 20.12.2012 informiert worden, ab Januar 2013 nicht zur Wiedervorstellung angehalten und auch nicht auf die Abklärungsnotwendigkeit des Ergebnisses der Stuhlprobe hingewiesen worden zu sein, mache sie einen Verstoß gegen die Pflicht zur therapeutischen Beratung (Sicherungsaufklärung) geltend; hierfür trage sie die volle Beweislast. Da auf der Grundlage der erstinstanzlichen Feststellungen und der ergänzenden Beweisaufnahme im Berufungsverfahren kein Fall vorliege, in dem der Arzt Untersuchungsergebnisse erhalten habe, die eine alsbaldige Vorstellung mit besonderer Dringlichkeit notwendig machten, könne ein Verstoß gegen die Pflicht zur therapeutischen Aufklärung nicht festgestellt werden.

Dabei habe auch der Befundbericht zur Stuhlprobe vom 20.12.2012 in der Gesamtschau des Behandlungsablaufs keinen Anlass gegeben, die Patientin sofort zu informieren oder bei ihr nach ihrem Ausbleiben im Januar 2013 auf eine Wiedervorstellung zu drängen. Denn auch die Ergebnisse dieser Stuhlprobe seien nicht dergestalt gewesen, dass unmittelbare ärztliche Konsequenzen hätten gezogen werden müssen. Zwar beschreibe der Befundbericht einen geringen Elastase-Wert, der nach der Nomenklatur des untersuchenden Labors einen Hinweis auf eine schwere Pankreasinsuffizienz gebe, was auch der gerichtliche Sachverständige als gravierend betrachtet habe. Der Sachverständige habe aber auch angeführt, dass es bei wässrigem oder dünnbreiigem Stuhl zu falsch niedrigen Messwerten kommen könne, was er hier angesichts der dokumentierten Ausscheidungsform für möglich gehalten habe. Aus dem einmalig gemessenen erheblich erniedrigten Elastase-Wert habe in Anbetracht der dokumentierten Form der Ausscheidung (ungeformter Stuhl) kein unmittelbar therapeutischer Schluss gezogen werden dürfen.

Mit diesen Ausführungen hat das Kammergericht den Anspruch der Patientin auf rechtliches Gehör aus Art. 103 Abs. 1 GG in entscheidungserheblicher Weise verletzt.

Der Gehörsverstoß liegt dabei bereits darin, dass das Kammergericht – wie die Nichtzulassungsbeschwerde zu Recht rügt – den Inhalt des von der Patientin vorgelegten Befundberichts offensichtlich unzutreffend erfasst hat. Darin wird die untersuchte Stuhlprobe nämlich nicht als „ungeformt“, sondern im Gegenteil als „geformt“ bezeichnet. Dass die Angabe über die Konsistenz der Probe im Befundbericht falsch gewesen wäre, hat das Kammergericht nicht festgestellt. Soweit die Nichtzulassungsbeschwerdeerwiderung darauf hinweist, dass die Patientin ihren anamnestischen Angaben zufolge in der Zeit der Probenentnahme an „breiig weichem“ Stuhl gelitten habe, ändert dies nichts daran, dass die Probe selbst, auf die das Kammergericht abstellt, nach dem vom Kammergericht in Bezug genommenen Befundbericht „geformt“ war.

Der Gehörsverstoß ist entscheidungserheblich. Es kann auf der Grundlage der bislang getroffenen Feststellungen nicht ausgeschlossen werden, dass das Kammergericht im Rahmen seiner Gesamtschau bei zutreffender Erfassung des Inhalts des Befundberichts zum Ergebnis gelangt wäre, die Patientin hätte von der Hausärztin bereits im Dezember 2012/Januar 2013 über den Befund informiert und/oder zur kurzfristigen Wiedervorstellung angehalten werden müssen, und infolge des in diesem Fall vorliegenden Behandlungsfehlers Schadensersatzansprüche der Patientin gegen die Hausärztin bejaht hätte.

Für das weitere Verfahren weist der Bundesgerichtshof auf Folgendes hin: Im Ausgangspunkt zutreffend stellt das Kammergericht zur Abgrenzung zwischen Befunderhebungsfehler und einem Fehler der therapeutischen Aufklärung darauf ab, ob der Schwerpunkt der Vorwerfbarkeit des ärztlichen Fehlverhaltens in der unterbliebenen Befunderhebung als solcher oder im Unterlassen von Warnhinweisen zum Zwecke der Sicherstellung des Behandlungserfolges liegt. Anders als das Kammergericht meint, liegt der Schwerpunkt der Vorwerfbarkeit in Fällen, in denen es – wie von der Patientin im Streitfall behauptet – schon an dem Hinweis fehlt, dass ein kontrollbedürftiger Befund vorliegt und dass Maßnahmen zur weiteren Abklärung medizinisch geboten sind, regelmäßig nicht im Unterlassen von Warnhinweisen, sondern in der unterbliebenen Befunderhebung3. Der von der Patientin im Streitfall behauptete Behandlungsfehler stellt mithin, sollte er vorliegen, einen Befunderhebungsfehler und nicht (nur) einen Fehler der therapeutischen Aufklärung dar.

Bundesgerichtshof, Beschluss vom 13. April 2021 – VI ZR 498/19

  1. LG Berlin, Urteil vom 25.07.2018 – 36 O 135/14[]
  2. KG, Urteil vom 18.11.2019 – 20 U 129/18[]
  3. BGH, Urteil vom 26.05.2020 – VI ZR 213/19, NJW 2020, 2467 Rn. 22 ff.[]

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