Die Nichtberücksichtigung eines erheblichen Beweisangebots verstößt gegen Art. 103 Abs. 1 GG, wenn sie im Prozessrecht keine Stütze findet (hier: zu Unrecht unterbliebene Zeugenvernehmung, weil die Zeugen den „eigentlichen Vorgang“ nicht wahrgenommen hätten).
Art. 103 Abs. 1 GG verpflichtet das Gericht, die Ausführungen der Prozessbeteiligten zur Kenntnis zu nehmen und in Erwägung zu ziehen. Das Gebot des rechtlichen Gehörs soll als Prozessgrundrecht sicherstellen, dass die Entscheidung frei von Verfahrensfehlern ergeht, welche ihren Grund in unterlassener Kenntnisnahme und Nichtberücksichtigung des Sachvortrags der Parteien haben. In diesem Sinne gebietet Art. 103 Abs. 1 GG in Verbindung mit den Grundsätzen der Zivilprozessordnung die Berücksichtigung erheblicher Beweisanträge. Die Nichtberücksichtigung eines erheblichen Beweisangebots verstößt gegen Art. 103 Abs. 1 GG, wenn sie im Prozessrecht keine Stütze findet1.
Die Ablehnung eines Beweisantrags wegen Ungeeignetheit des Beweismittels kommt nur dann in Betracht, wenn es völlig ausgeschlossen erscheint, dass das Beweismittel zu dem Beweisthema sachdienliche Erkenntnisse erbringen kann. Insoweit ist größte Zurückhaltung geboten. Darüber hinaus scheidet die Ablehnung eines Beweisantrags als ungeeignet aus, wenn dadurch ein noch nicht erhobener Beweis vorab gewürdigt wird, weil dies eine unzulässige Beweisantizipation darstellt2.
So tragen im hier vom Bundesgerichtshof entschiedenen Fall Die Erwägungen des in der Vorinstanz tätigen Hanseatischen Oberlandesgerichts Hamburg nicht dessen Annahme, es erscheine völlig ausgeschlossen, dass die Vernehmung der Zeugen sachdienliche Erkenntnisse erbringen könne3. Das Oberlandesgericht hat darauf abgestellt, dass die Zeugen nach dem Vortrag der Beklagten „den eigentlichen Vorgang selbst nicht wahrgenommen“ hätten und die Zeugen selbst bei Unterstellung der in ihr Wissen gestellten Aussagen also nicht geeignet wären, die Behauptungen zu beweisen. Damit hat das Oberlandesgericht die Bedeutung des Vortrags der Beklagten als unter Beweis gestellte Indiztatsachen verkannt und sich so eine entsprechende Würdigung versperrt. Indiztatsachen sind erhebliche Tatsachen, wenn der Indizienbeweis schlüssig ist, mithin die Gesamtheit aller vorgetragenen Indizien den Richter von der Wahrheit der Haupttatsache überzeugen könnte4. Indizien für die Wahrheit der Behauptung, die Klägerin habe gespuckt, sind beispielsweise die behaupteten Wahrnehmungen der Zeugen in Bezug auf die Reaktion der Umstehenden. So ist vorgetragen, dass der Zeuge E unmittelbar nach dem Vorfall Kontakt zu den weiteren Zeuginnen hatte, die ihm gesagt haben sollen, die Klägerin habe gespuckt. Die Zeugen H und – V nahmen nach dem Vortrag die Reaktion der Umstehenden wahr, nämlich, dass diese die Klägerin verfolgen wollten und äußerten, die Klägerin habe gespuckt. Der Zeuge G erfuhr nach der Behauptung der Beklagten von dem Zeugen E von dem Vorfall, begab sich zur Gedenkstelle und nahm die Umstehenden wahr, die ihm gezeigt hätten, wo die Klägerin hingespuckt habe. Entsprechendes habe er auch von dem Reporter S erfahren.
Hinzu tritt, dass die Aussagen der Zeugen zu ihren unmittelbaren Wahrnehmungen (beispielsweise mit wem die Klägerin sich der Gedenkstelle genähert hat) außerdem geeignet sein können, das Berufungsgericht von der Unwahrheit der Aussagen bereits vernommener Zeugen zu überzeugen. Soweit das Berufungsgericht schließlich zum Vortrag der Beklagten, der Zeuge E habe eine Spuckbewegung der Klägerin wahrgenommen, ausgeführt hat, es könne sein, dass die Bezeichnung der Bewegung der Klägerin nur eine Bewertung des Zeugen E sei, stellt das eine unzulässige vorweggenommene Beweiswürdigung dar.
Diese Gehörsverletzung war im vorliegenden Fall entscheidungserheblich; der Bundesgerichtshof konnte nicht ausschließen, dass das Berufungsgericht nach der gebotenen Vernehmung der Zeugen zu einer anderen Beurteilung gekommen wäre.
Bundesgerichtshof, Beschluss vom 20. Oktober 2020 – VI ZR 577/19
- BGH, Beschlüsse vom 25.09.2018 – VI ZR 234/17, NJW 2019, 607 Rn. 7; vom 10.04.2018 – VI ZR 378/17, NJW 2018, 2803 Rn. 7; jeweils mwN[↩]
- BGH, Beschluss vom 10.04.2018 – VI ZR 378/17, NJW 2018, 2803 Rn. 9; BGH, Beschlüsse vom 12.12.2018 – XII ZR 99/17, NJW-RR 2019, 380; vom 21.11.2019 – V ZR 101/19, NZM 2020, 376 Rn. 10 jeweils mwN[↩]
- OLG Hamburg, Urteil vom 15.11.2019 – 7 U 153/16[↩]
- st. Rspr.; vgl. nur BGH, Urteile vom 17.02.1970 – III ZR 139/67, BGHZ 53, 245, 261; vom 02.05.1990 – IV ZR 310/88, NJW-RR 1990, 1276 7[↩]
Bildnachweis:
- Hanseatisches Oberlandesgericht Hamburg: Christoph Braun | CC0 1.0 Universal